Über die Würde des zivilen Ungehorsam

Ein Denkzettel Was bedeutet ziviler Ungehorsam eigentlich genau? Was zeichnet ihn aus? Was unterscheidet ihn von obstinaten Revolten?

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Symbolbild
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Foto: Sean Gallup/Getty Images

Der Begriff wird im öffentlichen Diskurs meist falsch eingeordnet, leidet aufgrund seiner unscharfen Grenzen unter negativer Konnotation und wird deshalb von weiten Bevölkerungsteilen pauschalisierend abgelehnt. Dieser Kommentar soll an die konstitutive Daseinsnotwendigkeit des zivilen Ungehorsams im demokratischen Rechtstaat erinnern und gleichzeitig einen Anstoß zum Umdenken liefern: die (Handlungs-)Bereitschaft zur erneuten Beratung und Willensbildung, über eine geltende Norm oder eine rechtskräftig beschlossene Politik, wecken.

Damit dies Umdenken auch Früchte trägt und dessen Entfaltungspotential breiteren Gesellschaftsschichten eröffnet werden kann, bedarf es einer gewissen Resonanz. Systemkritische Diskussionen finden jedoch meist in radikalen Ansätzen statt, was - aufgrund historisch aufgeladener Begrifflichkeiten - großen Bevölkerungsteilen den Zugang erschwert. Nahezu jedes revolutionäre Gedankengut in Bezug auf gesellschaftliche Reorganisation ist in der Vergangenheit entweder gescheitert oder wurde zweckoperationalisiert und mündete in autoritären Regimen. Mit entsprechender Skepsis wird nun damit umgegangen. Revolution muss also neu gedacht werden. Es braucht keinen harten, unmittelbaren Bruch der gesellschaftlichen Verhältnisse, diese müssen stattdessen in einem kontinuierlichen Prozess, kollektiv gestaltet werden, um Bestand zu haben. Es bedarf also mehr als exklusiver Interventionsgruppen die kurzsichtigen Aktionismus betreiben, es muss sich eine tiefgreifende, strukturelle soziale Reorganisation etablieren, um aufnahme- und entwicklungsfähig zu sein. Dies kann nicht von heute auf morgen geschehen, sondern erfordert die Zeit umfassende soziale Gegeninstitutionen zu gestalten, über welche ein geordneter Übergang von statten gehen kann. Allerdings soll hier nicht im Detail auf politische Mobilisierungsprozesse eingegangen werden, sondern vor allem an den bedeutungsvollen Gehalt des zivilen Ungehorsams erinnert werden.

Es bedarf also einer geeigneten Kommunikationsplattform, einem Sprachrohr der BürgerInnen. Hier tritt der (aufgeklärte) zivile Ungehorsam ins Licht. Aufgeklärt im Sinne einer angemessenen Form; einer Form, in welcher dem gesellschaftspolitischen Gewicht und seiner menschenrechtlichen Verankerung Geltung getragen wird. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Geschichte der europäischen Grundrechte ein von Rückschlägen unterbrochener kollektiver Lernprozess ist, war, und - wie alle anthropogenen Konstruktionen der Realität - immer bleiben wird. Folgt man dem Philosophen Jürgen Habermas, so erscheint der Rechtsstaat im Ganzen aus historischer Perspektive nicht als ein fertiges Gebilde, sondern als ein anfälliges, irritierbares Unternehmen, das darauf angelegt ist unter wechselnden Umständen eine legitime Rechtsordnung herzustellen, aufrechtzuerhalten, zu erneuern oder zu erweitern - diese historische Tatsache muss in den Köpfen der BürgerInnen wieder an Präsenz gewinnen. Darüber hinaus bedarf es einer Konkretisierung des Begriffs des zivilen Ungehorsams, sowie einer Darstellung seiner moralischen Rechtfertigung – herrscht diesbezüglich einmal breites Verständnis, so kann der zivile Ungehorsam in weiterer Folge auch unterstützt, oder zumindest akzeptiert werden. Somit wüchsen automatisch auch seine (politischen) Handlungsspielräume. Aktionismus würde sukzessive in einem neuen Licht erscheinen; die Öffentlichkeit muss (und will - aus Eigeninteresse) die angeprangerten Verhältnisse ernster zur Kenntnis nehmen und dementsprechend verfahren. Ziviler Ungehorsam könnte, insofern er spezifisch legitim ist, die Entwicklung zu einem zentralen politischen Instrument nehmen, welches sich aus einer Kombination verschiedener Interessen- & Selbstverwaltungsstrukturen speist, und diese im Umkehrschluss auch fördert. Um dies auf Meso- bzw. Makroebene zu bewerkstelligen, bedarf es ob des “legalen” (zu dieser Akzentuierung gleich mehr) Zwielichts in dem man sich zum Zeitpunkt des Rebellierens bewegt, gewisser Rahmenbedingungen um dieser Vorstellung gerecht zu werden.

Um zivilen Ungehorsam als Element einer reifen politischen Kultur anzuerkennen, muss zunächst einmal begriffen werden, dass er ein normalisierter (weil notwendiger!) Bestandteil jeder rechtsstaatlichen Demokratie ist. Denn nur über die Identifikation mit den Verfassungsgrundsätzen einer demokratischen Republik ist es möglich, eine Protesthandlung, auch wenn diese die Grenzen des rechtlich Zulässigen überschreitet, ausschließlich in ihrem symbolischen Charakter zu begreifen. Allerdings sollte jene Protesthandlung nur ausgeführt werden, wenn sie an die Einsichtsfähigkeit und den Gerechtigkeitssinn der jeweiligen Mehrheit appelliert. Dieser Punkt ist zwar schwer nachvollziehbar, jedoch von zentraler Bedeutung, denn er distinguiert den zivilen Ungehorsam von starrsinnigen Revolten. Wer sich zum zivilen Ungehorsam entschließt, will sich angesichts der Tragweite einer für illegitim gehaltenen Regelung nicht damit zufriedengeben, dass die institutionell vorgesehenen Möglichkeiten etwas zu verändern, ausgeschöpft sind. John Rawls von der Harvard-University formulierte in diesem Zusammenhang drei Bedingungen des zivilen Ungehorsams:

1) Protest muss sich gegen wohlumschriebene Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten.
2) Die Möglichkeiten aussichtsreicher legaler Einflussnahme müssen erschöpft sein.
3) Die Aktivitäten des Ungehorsams dürfen kein Ausmaß annehmen, welches das Funktionieren der Verfassungsordnung gefährdet.

Diese drei Punkte sollten als Rahmenbedingung jeder Protesthandlung verstanden werden. Wie bereits angedeutet bewegt sich der zivile Ungehorsam in einem gewissen Zwielicht – rechtlicher wie moralischer Art. Über die damit einhergehende ethische Gefahr soll also keineswegs hinweggetäuscht werden. Denn wer unter Berufung auf sein Gewissen Gesetze bricht, nimmt sich Rechte heraus, die eine demokratische Rechtsordnung, um der Sicherheit und der Freiheit aller BürgerInnen willen, niemandem einräumen kann. Der Rechtsfrieden ist eine der höchsten und verletzbarsten kulturellen Errungenschaften. Ziviler Ungehorsam stellt also gewissermaßen einen Prüfstein des Rechtsstaats dar; einen Prüfstein für das angemessene Verständnis der moralischen Grundlagen der Demokratie - mit anderen Worten: er spiegelt den Reifezustand einer Gesellschaft wider. Denn ziviler Ungehorsam entsteht nur in einem mehr oder weniger gerechten demokratischen Staat für die BürgerInnen, die die Verfassung anerkennen. Aus dieser Perspektive öffnet sich der Blick auf eine problembehaftete Säule der Demokratie: die Mehrheitsregel. Jürgen Habermas erkennt in diesem Kontext einen Pflichtenkonflikt der sich in der Minderheit befindenden BürgerInnen eines Rechtsstaats. Er fragt sich: “An welchem Punkt ist die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungsmehrheit beschlossenen Gesetzen zu fügen, angesichts des Rechts zur Verteidigung seiner Freiheit und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht mehr bindend?”. Diese Frage rührt an Sinn und Grenzen der Mehrheitsregel. Gerade weil der Rechtsstaat den Legitimationsanspruch erhebt, die Rechtsordnung aus freien Stücken anzuerkennen und nicht etwa aus Furcht vor einer Strafe. Die Verfassung muss aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das “positive Recht” (kraft einer Mehrheit an Wählerstimmen) mit ihnen übereinstimmt oder nicht. Aufgrund der vorliegenden Diskrepanz zwischen dem was legal ist - sprich im Sinne der jeweils bestehenden Verfassung -, und dem was (übergesetzlich) legitim ist, kann ein demokratischer Rechtsstaat von seinen BürgerInnen keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern. Hierbei sei auf das Bekenntnis im Grundgesetz verwiesen, welches anerkennt, dass die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte eine “übergesetzliche Geltung legitimierender Verfassungsprinzipien” genießen. Somit ist also eine von der Judikative eigens eingeräumte Grauzone zwischen Legalität und Legitimität vorhanden, in wessen Schwebe auch der zivile Ungehorsam beheimatet ist. Die rechtsstaatliche Demokratie muss laut Habermas also paradoxerweise das Misstrauen gegen ein in legalen Formen auftretendes Unrecht schützen und gleichzeitig wachhalten.
Der (aufgeklärte) zivile Ungehorsam ist aufgrund seiner ambivalenten Natur zwar mit Vorsicht zu genießen, sein gesellschaftspolitisches Gewicht scheint jedoch unverkennbar auf: es muss jedem Gesellschaftsmitglied möglich sein, im Ausnahmefall in die originären Rechte des Souveräns eintreten zu dürfen!

Warum lohnt die Erinnerung gerade jetzt? Veranlasst durch die global anhaltende COVID-19 Krise sind die Handlungsspielräume des zivilen Ungehorsams aufgrund des Versammlungsverbots, aber auch wegen der rapide wegbrechenden zeitlichen und ökonomischen Ressourcen, erheblich eingeschränkt. Zudem kämpfen viele AktivistInnen gegen den eigenen Abstieg, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit an. Dieses weltweit geteilte Schicksal produziert zudem vielerorts Spannungsfelder: Corona stärkt neoliberale, hierarchisierende, nationalistische und rassistische Tendenzen und dominiert weiters auch die mediale & individuelle Aufmerksamkeitsökonomie. Die potentiell eigene Betroffenheit oder die der eigenen Nation stehen im Vordergrund. Menschenrechtsverletzungen und extreme Notlagen (wie sie beispielsweise im Flüchtlingslager Moria zu beobachten waren) werden, wenn überhaupt, vor dem Hintergrund eigener möglicher Bedrohung diskutiert - sorgenvolle Mitmenschen können dem ferner nicht mit Straßenprotest begegnen. Soziale Bewegungen und Proteste sind zentrale Kräfte des Widerstandes gegen Exklusionsprozesse solcher Art: sie schaffen Deutungsangebote, sind Stimmen der Kritik und alternativer Zukünfte. Gerade weil die gegenwärtige Krise eine Machtkonzentration, ein Verstummen der Kritik, wachsende Ungleichheiten, Ausgrenzungen und eine Aushebelung demokratischer Verfahren mit sich bringt, ist es umso wichtiger an die zentrale Bedeutung des zivilen Ungehorsams im Rechtstaat zu erinnern. Neben dem Sensibilisierungsaspekt bezüglich sozialer Ungleichheitsstrukturen, ist es auch an den BürgerInnen Statements zu setzen und sich bereitwillig zeigen, gemeinsam eine Post-Corona Ordnung zu gestalten in der die Normalität des Ausnahmezustandes wieder aufgehoben wird. Um die zu Tage getretenen Schwächen im Gesundheitssystem, in der globalen Ökonomie, in der Klima-, Flüchtlings- oder Gleichstellungspolitik, aber auch in unseren Lebens- & Konsumweisen zu verändern, braucht es die anfänglich erwähnte Resonanz, braucht es das kollektive Potential von unten. Einzig ein drohender Legitimitätsverlust stimmt Regierungen um – diesen müssen sie aber erst zu spüren bekommen!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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