BILD lässt grüßen

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Wer "DIE ZEIT" abonniert, muss ein dickes Fell haben. Dass widrige Stacheln auch dann noch durchdringen, erfährt der Leser, wenn er fleißig blättert („DIE ZEIT“, 30. Dezember 2009). Da lässt man Hans Küng tanzen, weil er es gut meint und nichts wirklich in Frage stellt. Da macht man Coffee to go, das iPhone, Ritalin, den Porsche Cayenne und Manufactum zu Requisiten des zurückliegenden Jahrzehnts, feiert britisches Theater, das "aus dem großen Niedergang Kunst macht" und verpasst Voyeuren „Nur die Liebe zählt“.

Über Küngs Interview habe ich mich schon ausgelassen. Deshalb flott zu den Requisiten. Wie heißt es so schön bei Coffe to go: "…In diesem Jahrzehnt haben wir endlich gelernt, mit der Beschleunigung der Moderne umzugehen. Wir machen es wie der Igel im Wettlauf mit dem Hasen: Wir sind immer schon da […]. Weil uns der spezifische Ort nichts mehr bedeutet, wird auch jede Art von Distanz bedeutungslos. Ganz selbstverständlich wird auch der schwerste Ehekrach per Handy im vollbesetzten Bus ausgetragen." Wen meint Hanno Tauterberg, wenn er WIR sagt. Meint er sich, Otto mit Hartz IV oder doch nur Boris Becker.

Ähnlich beliebig geht es bei Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat) zu. Man schreibt zwar, dass Fachleute vor seinem Missbrauch warnen, schiebt aber süffisant dazu, dass Wissenschaftler in der Zeitschrift "Nature" dafür plädierten, die Droge als Bildungsbeschleuniger zuzulassen – aus Gründen der Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Und als ob das längst vorweggenommen sei, notiert man: "Etwa so muss es wohl gekommen sein, dass allein von 1999 bis 2008 in Deutschland die Zahl der jährlich verordneten Tagesrationen von acht auf 53 Millionen gestiegen ist." Und statt mit dem Knüppel zu kontern, ergänzt man genüsslich: Die Pharmaindustrie sähe Ritalin gern auch für Erwachsene zugelassen, der Markt an Gesunden ist ja noch größer als der an Kranken. Soviel fehlgegangener Zynismus hätte in meiner Redaktion zur Abmahnung geführt. Hier aber offenbar: Fehlanzeige.

Da wirkte es wie ein Wunder, dass Thomas Assheuer die SUVs (Landrover-"Kampfmaschinen") auf Korn nahm und endlich mal ausspuckte, was „Cayenne“ bedeutet: 2,5 Tonnen Gewicht, Extremgeschwindigkeit und 20 Liter auf 100 Kilometer. Unklar blieb allerdings, warum der Autor die SUVs als Fluchtfahrzeuge, als Monumente der panischen westlichen Seele im Zeitalter von Terror und Krieg, Bankrott und Klimakatastrophe abkanzelte, als vielmehr festzustellen, dass es sich bei den Monstern um Klimakiller, Angeberfahrzeuge und Penisunterstützer handelt. Ist Assheuer ein Deuter des untergehenden Kapitalismus, oder bin ich etwa ... ein neidischer Biosandalist?

Doch richtig daneben, ging es erst bei Ijoma Mangold. Für sie wurde die zurückliegende Dekade ein Jahrzehnt der Ernsthaftigkeit. Man sei, weil es den 11. September und die Immobilienkrise gegeben habe, "aus Not vernünftig" geworden. Wie bitte sollen wir diesen Schwachsinn verstehen - bei Vakuum-Bomben in Bagdad, bei ISAF in Afghanistan und Bankenrettung durch Steuerzahler?

Ja, vieles in der "großen Überregionalen" stinkt zum Himmel, und man spürt förmlich, wie die Information, wie das Solide Federn lässt – etwa, wenn man die Entartung der "Mutter Courage" als "glückliche Spekulantin" mitfeiert, weil das offenbar einen Nerv treffe. Banker scheinen offenbar zum TOP-Thema der Londoner Theater geworden zu sein. Will man den Interpretationen der Zeitung folgen, geraten sie aber ausschließlich zu Witzfiguren. Statt ihnen den Platz im Knast freizuschießen, stilisiert man sie zu Tools des Amüsements. Da - Freunde - soll mitmutieren, wer will, da soll dekadenten Spaß haben, wer will. Mich widert das nur an. Und wenn ich in den Parallelkommentar lese: „… aber alle wissen, dass das schlimme Ende kommen muss.“, weiß ich, was abgeht.

Bleibt noch das Sahnehäubchen für diejenigen, die die letzte Bildzeitung verpasst haben. Unter dem Titel "Das war (auch) das Jahr" öffnet Ulrich Holbein mal schnell die Hose. Der vom Stress geplagte Bürger – so seine Analyse – habe 2009 dennoch Zeit für Sex gehabt – im Schnitt 117 mal. Seine hochfrequente Involvierung habe den Frauen durchschnittlich einen Kilometer Schwanz beschert ... Wer das unter die Sub-Head "Nur die Liebe zählt" ausgießt, urteilt "ZEIT"-gemäß. Soviel Krankheit muss einfach wehtun.

Dr. Ulrich Scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de

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Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

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