Das Chaos ist perfekt

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Opposition und Medien werfen der neuen, schwarz-gelben Regierung einen schlechten Start vor. Dabei wird schnell vergessen, dass es bei denen auf der „Strafbank“ nicht besser aussieht. Die SPD hat Mühe, ihre ausgebrannte Altherren-Riege abzulösen und mit neuen Konzepten aufzuwarten. Die Grünen ächzen im Spagat zwischen traditionellen Werten und Jamaika. Und der Linken droht gar die Spaltung, weil sich Oskar L. und Geschäftführer Bartsch in den Haaren liegen („SPIEGEL ONLINE“, 11.Januar 2010) Der Bürger fragt sich, ob es überhaupt irgendwo Ruhe und die Kraft gibt, die Anforderungen von 2010 zu bestehen. Immerhin drohen steigende Arbeitslosigkeit, eine chronische Unterfinanzierung von Ländern und Kommunen, neue Querelen um die Bayrische Landesbank, Streit um Afghanistan und Zerreißproben um Hartz IV. Ganz zu schweigen vom so genannten „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“, das vermutlich nach hinten losgeht. Angesichts dieser Gemengelange drängt sich der Eindruck auf, dass in der deutschen Politik so gar nichts funktioniert. Fragt sich, ob Angela Merkel jetzt die Deckung verlässt und versucht, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Ihre von Schweigen begleitete Backstage-Strategie ist spätestens jetzt ad absurdum geführt. Sollte sie weiter zögern, dann dürften ihre Tage im Amt gezählt sein. Selbst Seehofer und Co. können dann nur verschämt wegschauen. Derzeit weiß niemand so recht, ob die Ostdeutsche, die Umwelt und sozial ganz gern im Gepäck hielte, auf konservativer einschwenkt. Bereits jetzt werfen ihr rechte CDUler vor, die (christlichen?) Befindlichkeiten ihrer Altvorderen nicht so recht zu begreifen. Der alte, von Kohl-Streicheleien begleitete Ost-Bonus scheint endgültig verspielt. Jenseits der offiziellen Politik treibt Friedrich Merz, der Merkel-Opponent, in den Verwaltungsrat von HSBC Trinkhaus und tritt dort die Nachfolge des verstorbenen Lambsdorf an („Rheinische Post“, 13. Januar 2010). Sehr wahrscheinlich, dass er die Vorgänge in Berlin aufmerksam beobachtet und seine Rückkehr „an die Front“ – wenn nicht ernsthaft erwägt – so doch im Blickfeld hat. Jetzt, da nichts läuft, könnten die Chancen des neoliberalen Hardliners wachsen. Andererseits dürfte gerade er – nicht wegen fehlender Kompetenz – wohl aber, weil sein Kurs echt gelb ist, zum neuen Zankapfel werden. Denn eine Stärkung der permanent stänkernden FDP käme der CDU alles andere als zupass. Seehofer sprach im Fernsehen von „Kommunikationsproblemen“ im Regierungsbündnis, die man schnell beseitigen werde (ARD/“Beckmann“, 11. Januar 2010). Mir aber scheint, dass das Schlamassel nicht nur tiefer geht, sondern weiter andauert – und nur deshalb beherrschbar bleibt, weil die Gegner ähnlich traumatisiert sind.

Dr. Ulrich Scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de 

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden