David wird beschworen, doch Goliath hat gesiegt!

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Mein gestriger BLOG war voreilig formuliert. Ich blogge nicht gern nach. Aber hier muss es sein. Es geht um Stuttgart21 - die Schlichtung:

David wird beschworen, und Goliath hat gesiegt

Als Heiner Geißler seinen Job in Stuttgart aufnahm, fragte ich mich, warum er sich das antue. Denn eine für beide Seiten auskömmliche Lösung zu Stuttgart 21 war nicht in Sicht. Der Bahnhof auf halber Höhe, die Hochgeschwindigkeitsstrecke mit halber Steigung, die Bäume im Park nur gestutzt. Das alles schien abwegig. Was sich anbot, war ein JA oder NEIN. Heute, da der Schlichterspruch vorliegt, gibt man sich anerkennend und salbungsvoll. Dabei liegt eher kein Ergebnis vor. Es sei denn man stellt neuerlich fest, dass solche Verhandlungen – transparent und natürlich mit anderem Namen – grundsätzlich vor Beginn neuer Planfeststellungsverfahrens für Großvorhaben anberaumt werden sollten. Die Bürgerbeteiligung – und das ist sicher ein brauchbares Resultat – muss früher stattfinden. Nur so kann auf die Entwürfe Einfluss genommen werden, bevor sie Geld kosten und Verträge vorliegen. Nun, die Bürger hatten auch bei Stuttgart21 Gelegenheit sich an den unzähligen öffentlichen (allerdings keineswegs transparenten) Prozeduren zu beteiligen. Sie taten es nicht oder nur in geringem Maße – wobei die fehlende Transparenz keine Rolle spielte, weil nicht wahrgenommen. Erst die Bagger, erst die sich anbahnende Zerstörung, erst die inmitten der Finanzkrise explosionsartig anwachsenden Aufwandszahlen haben die Bürger aufwecken/aufschrecken können. Auch heute nach der belobigten Schlichterparade verrät uns niemand, wie der Bürger – im Vergleich zu bisher – sehr viel schneller, sehr viel früher für Großprojekte interessiert und an die Zeichentische gezerrt werden soll. Soweit nichts Neues, soweit so schlecht.

Was Stuttgart21 betrifft, so hat Geißler die Fortführung der Arbeiten – sogar ohne Baustopp – empfohlen, und daran scheint sich die CDU-Regierung auch halten zu wollen. Warum auch nicht, wenn die Entscheidung eben das festschreibt, was Regierung und Bahn anstrebten. Für die Stuttgart21-Gegner ist dagegen so gut wie nichts herausgekommen. Allenfalls die Ruhigstellung vieler ihrer Mitkämpfer, von denen jeder zweite nicht weiß, ob er sich nun eher an den (unverbindlichen) Schlichterspruch halten und auf weitere Proteste verzichten oder aber völlig anders bewegen müsse. Die Bilanz ist tatsächlich mau: Zwei Gleise mehr, bessere Untergrundprüfungen, höhere Kosten, ein paar Bäume – das war’s. Kein Wunder, dass die Ex-Demonstranten jetzt verdattert aufwachen, weil sie nichts oder viel zu wenig gekonnt haben. Zwar tönt der baden-württembergische Grünen-Fraktions-Chef Winfried Kretschmann, dass er beim Wahlsieg im März alles kippen könnte, doch ganz so einfach dürfte sich das nicht darstellen. Immerhin rollen bis dahin weitere Kosten an, und niemand weiß, ob nicht doch noch ein Bürgerentscheid die Karten ganz anders mischt.

Nein, nein: Wenn DIE ZEIT heute titelt, David habe gewonnen ("Die ZEI`T", 2. Dezember 2010) und eben diese Feststellung Mr. Kretschmann anheften möchte, dann bewegt sie das Denken in die bewusst falsche Richtung, oder moderater formuliert: dann weckt sie beim Leser geradezu Widerwillen. In Wirklichkeit nämlich hat Goliath das Rennen gemacht - auf (fast) der gesamten Strecke. Er hat es nicht nur geschickt verstanden, den als halb links, also als CDU-untypisch geltenden und damit unverdächtigen Geißler für sich einzuspannen, sondern diesen Mann auch politisch zu wenden und ...erstmals einen Keil zwischen ihn und viele seiner Anhänger zu treiben. Das ist – mit etwas Pathos versehen – ein fulminanter Sieg des Konservatismus mit Schwächung vor allem der Linken.

Gewiss: Geißler hat gezeigt, wie man die Dinge in Zukunft anfassen muss, der Sache an sich aber einen Bärendienst erwiesen. Weit verheerender aber haben die Anführer der Protestbewegung, und unter ihnen auch die grünen Führungskader, gehandelt. Sie ließen sich darauf ein, nur eine technische Lösung, nämlich die des unterirdischen Bahnhofs, zu diskutieren. Und sie schluckten die Beschwichtigung, dass man ja an kritischen Stellen nachbessern könne. In eine solche Situation hätten sie nie einwilligen dürfen. Im Gegenteil: Sie hätten kraftvoll für denErhalt des Kopfbahnhofes kämpfen müssen. Auch um den Preis des Scheiterns der Schlichtung.

Jetzt ist die Protest-Bewegung – auch mit Hilfe von Geißler – gespalten, wenn nicht zerschlagen. Welch Böswill oder Dummtrotz da von Davids Sieg zu sprechen. Warten wir ab, wie es künftig bei Großvorhaben laufen wird. Die Menschen – das wissen wir – vergessen schnell und gründlich. Ganz im Gegensatz dazu die an Großvorhaben interessierten Bauherren und Politiker. Sie werden den Dreh schon finden, um die Dinge in alter Routine zu befördern.

Was Stuttgart angeht, so scheint die Sache klar: Dort wird weiter gebaut, dort werden weiter Fakten geschaffen. Dass man dem Stresstest (Prüfung auf Durchlassfähigkeit der Gesamtkonstruktion) bis zum kommenden Sommer Zeit lässt, zeigt nicht nur, dass bei aller Wertschätzung der Fachgespräche auch Dummköpfe und Verdummer am Werk waren. Weiß doch jeder, dass Verkehrssimulationen keines 6-monatigen Aufwandes bedürfen und dass Sommer-2011-Ergebnisse an bis dahin geschaffenen Fakten nichts ändern werden (der Brief an CDU-Umweltministerin Tanja Gönner von gestern lässt das bereits ahnen). Oder glaubt man, zwei zusätzliche Gleise etc. noch so schnell nachträglich einbinden bzw. den Platz dafür offen halten zu können. Was Stuttgart21 angeht, so wird jetzt weiter gebaut und ggf. Geld verbraten. Die rigiden Gegner des Projekts stürzen (geschwächt) zurück auf die Barrikaden, Geißler verschwindet und der Rest schaut zu. Frohe Weihnachten!

Dr.-Ing. Ulrich Scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de

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Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

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