Defizite bei Bildung und Ausbildung bedrohen unsere Gesellschaft

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Mit den angedachten Steuersenkungen hat die schwarz-gelbe Regierung eines deutlich gemacht: Der deutsche Gini-Index, ein Maß für die Ungleichheit in der Gesellschaft, driftet weiter nach oben. Denn nicht die Bedürftigen sollen eine Entlastung erfahren, sondern Besserverdienende, Erben und Unternehmen. Bereits heute klafft eine erhebliche Gerechtigkeitslücke in unserem Land. Längst gehört Deutschland – was die soziale Ausgeglichenheit betrifft – nicht mehr zu den Vorzeigeländern. Besonders gravierend sind die Unterschiede bei den Bildungs-Chancen, die sehr entscheidend den späteren Status von Menschen bestimmen. Nicht nur, dass die Bundesregierung weniger in die Bildung investiert hat als der Durchschnitt der OECD-Länder. Sie tat auch kaum etwas, um die Chancen von Kindern aus armen/bildungsarmen Schichten zu verbessern. So sind es vor allem die Kinder von Akademikern, die zu 88% ins Abitur gehen, während Kinder von Nichtakademikern mit 46% und Arbeiterkinder mit 36% das Nachsehen haben. Bei Studienanfängern sehen die Zahlen mit 83%, 23% und 18% noch düsterer aus. Das Führungspersonal der Wirtschaft kam folglich zu mehr als drei Vierteln aus der oberen Bürgerschicht, weil Kinder armer Leute erst in der Schule und später auch im Berufsleben benachteiligt werden. Derzeit kommen praktisch zwei Drittel der Menschen aus unteren Einkommensschichten nicht weiter. Gefährlich daran ist der aufkommende Fatalismus. Heute – so stellt auch Allensbach fest – spornt die vorhandene Ungleichheit weniger Menschen als früher an, überhaupt aufstiegen zu wollen. Kombiniert man Arbeits- und Bildungschancen mit der Geldverteilung, so liegt Deutschland heute weit hinten in der Fairness-Tabelle, während z.B. die Skandinavier führen. Jedes sechste hiesige Kind lebt derzeit in einem relativ armen Haushalt (im OECD-Durchschnitt: jedes achte). Dabei droht vor allem drei einander überlappenden Gruppen die Armut: den Geringqualifizierten, den Alleinerziehenden und den Migranten. Dies birgt sozialen Sprengstoff ohnegleichen. Nicht von ungefähr folgert Uwe Jean Heuser: Wer am unteren Ende dieser so merkwürdig geteilten Gesellschaft nicht für mehr Fairness sorgt, kann am oberen Ende noch so viel entlasten und fördern – er wird von der Ungerechtigkeit eingeholt werden – durch fortlaufend hohe Sozialkosten und gesellschaftliche Spannungen ("DIE ZEIT", 5. November 2009). Ich habe schon des öfteren darauf aufmerksam gemacht, dass in Deutschland wertvolles Intelligenzpotenzial verschleudert wird – durch zu wenig Vorschul-Förderung von Kindern aus sozial schwachen Schichten, durch vorschnelles Aussortieren vorgeblich leistungsschwacher Schüler (dreigliedriges Schulsystem) und fehlende Berufsausbildung. Diese Miseren stehen unmittelbar in Verbindung. Dass heut zu Tage jährlich etwa 150.000 Jugendliche eine Berufsausbildung gar nicht erst beginnen, hat nicht nur mit mangelnden Angeboten, sondern vor allem damit zu tun, dass fundamentale Wissensvoraussetzungen fehlen. Besonders extrem ist die Situation bei Migrantenkindern. Obwohl die Boston Consulting Group (BCG) kürzlich feststellte, dass es sich lohne, vor allem diese Klientel zu fördern, gibt es hierzu kaum Ansätze. Wenn Deutschland diese Missstände nicht umgehend beseitige – so der Untersuchungsbericht – wird uns in Kürze ein noch schmerzhafterer Fachkräftemangel ins Haus stehen. Für Migrantenkinder, aber auch für die aus sozial schwachen deutschen Familien muss folglich erheblich mehr getan werden. Dazu gehört nach Aufgabe des dreigliedrigen Schulsystems die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule ebenso wie eine spezielle, kostenlose Förderung im Vorschulalter (Sprache, Allgemeinwissen, Sozialisierung). Die BCG hat errechnet, dass allein der Einsatz von jährlich 5 Milliarden Euro zur Verbesserung der Bildungs-Chancen von Migrantenkindern bis 2030 sechsmal so viel Geld durch zusätzliche Einnahmen und Wegfall sozialer Hilfen einspielen würde.
Ulrich Scharfenorth, Ratingen
www.stoerfall-zukunft.de

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Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

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