Im Vorfeld des 9. November 2009 übertreffen sich die Medien in Feierbeiträgen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Und zweifellos: Fast jeder Bürger unseres Landes freut sich über das inzwischen weit zurückliegende Ereignis. Mir geht es ebenso. Dennoch bleiben angesichts der Jubelszenarien offene Fragen, die wir entweder nicht oder ungenügend beantworten, ja vielfach ausblenden. Weder gibt es heute eine gesicherte Auskunft über den genauen Verlauf der Ereignisse, noch eine Plattform, auf der Millionen von Mitbürgern ihre (andere) Sicht der Dinge darstellen können. Dass die Freude über das Aufbrechen des „Käfigs“, den Mut der Dissidenten und Demonstranten überwiegt, ist verständlich und richtig. Schließlich war die Wiedervereinigung Deutschlands nur möglich, weil es auch die innere Kraft gab, die den Widersinn der Geschichte (die Spaltung) korrigieren wollte. Dass dabei auch die Großmächte mitspielen mussten, ist unumstritten. Heute wissen wir, dass es von Seiten der damaligen UdSSR und der USA klare Zustimmung, aus Großbritannien und Frankreich hingegen erheblichen Widerstand gab. Es mutet im Rückblick wie ein Wunder an, dass der Konsens dennoch - und zwar ohne Gewalt - erreicht wurde. Was sich indes im Background detailliert abspielte, dürfte noch für Jahrzehnte ein Geheimnis bleiben. Gorbatschow hatte wohl rechtzeitig erkannt, dass die Aufrechterhaltung des Warschauer Paktes, insbesondere aber der wirtschaftlich angeschlagenen DDR (einschließlich Berliner Mauer) ein Unding war. Von den sonstigen Führern der UdSSR ist er damals als Verräter beschimpft worden. Völlig zu Unrecht. Gorbatschow stand mitten im Leben, und er wusste, was lief. Sein Gefühl dafür, dass der „real existierende Sozialismus“ Moskauer Prägung keine Zukunft hatte, trog nicht.
Bis heute ist die Frage, ob man mit dem Menschen – so wie er ist – einen besseren Sozialismus überhaupt aufbauen kann, unbeantwortet. Hierbei geht es keineswegs nur darum, ob im Zeitalter der nahezu perfekten EDV ein alternatives planwirtschaftliches Wirtschaftsgebilde zu steuern wäre. Sondern darum, ob man dem Wollen, den Wünschen und den Bedürfnissen der Bürgern im Sozialismus besser entsprechen könnte als im Kapitalismus – und der Bürger ein neues Gefüge überhaupt annehmen würde. Die meisten Politiker und Wirtschaftsexperten des Westens widersprechen dem vehement. Und auch große Teile der Öffentlichkeit glauben, dass ein reformierter Kapitalismus allemal besser wäre als eine zentral gelenkte Kommandostruktur.
Zwei Fragen bleiben in dieser Kontroverse offen:
1) Ist der Kapitalismus überhaupt reformierbar – und zwar signifikant? …und
2) muss ein sozialistischer Staat so aussehen, wie das Klischees seiner Gegner derzeit suggerieren?
Zweifellos können solche Überlegungen nicht Gegenstand nationaler Betrachtungen sein. Die Welt ist groß, und Experimente an der Substanz gibt es überall. Folglich sind die Fragen nur im Kontext mit den jeweiligen historisch-kulturellen Gegebenheiten, finanziellen und wirtschaftlichen Bedingungen, sprich: mit den sich unterschiedlich verändernden gesellschaftlichen Strukturen zu beantworten. Wir erleben auf der einen Seite die zunehmenden Widersprüche und eine weitgehende Reformunfähigkeit der westlichen Welt, andererseits aber völlig andere Strukturen in China und Südamerika (z.B. Chaves).
Doch zurück zum Mauerfall. Mir persönlich liegt viel daran, zu erfahren, ob es im Vorfeld des 9. November 2009 eine Art Übergabebereitschaft „maßgeblicher Genossen“ gab und ob sich diese Haltung – im Konsens mit der UdSSR – letztlich durchsetzte. Egon Krenz behauptet bis heute, dass nur auf seinen ausdrücklichen Befehl hin im November 1989 kein Schuss fiel. Wahr oder nicht wahr? Maßgeblicher scheint auf jeden Fall die Anweisung Gorbatschows, der sowjetischen Panzer das Verlassen ihrer DDR-Kasernen verbot. Niemand weiß heute mit Bestimmtheit zu sagen, wie das warum in welchem Zeitfenster ablief. Krenz sperrte man als Verantwortlichen für die Mauertoten ein. Parallel dazu wurde Geschichte geschrieben, und zwar so, wie sie bis heute von den Medien vervielfacht wird. Es kann und darf offenbar nicht sein, dass Krenz (der Bandit) Blutvergießen verhindert hat – möglicherweise im Einverständnis mit Gorbatschow. Heute wird kolportiert, dass Gorbatschow die Westmächte davor gewarnt habe, Kontakt zum Honeckernachfolger aufzunehmen – mit dem Hinweis, dass Krenz recht schnell aus dem Machtgefüge der DDR ausscheiden dürfte. Eine Stellungnahme Gorbatschows hierzu kenne ich nicht.
Es gibt in den neuen Ländern ganz sicher Leute, die Teile dieses Geheimnisses lüften könnten. Genauso sicher aber dürfte es sein, dass man ihnen misstraut oder sie permanent mundtot macht. Dass 65% der Menschen jenseits der Elbe die heutige Gesellschaft ungerechter finden und 40% die ehemalige DDR keineswegs als Unrechtsstaat betrachten, schockiert allenthalben. Die Ursachen dafür werden entweder nicht oder fehlerhaft analysiert. Vielfach attestiert man diesen Leuten Nostalgiegehabe und Blödheit – in einer schier unerträglichen Arroganz. Immerhin implizierte das östliche Deutschland – so indiskutabel seine Existenzfähigkeit an sich war/ist – rechtsstaatliche Elemente. Die Bürger erinnern sich sehr gut an das Recht auf Arbeit, Unterkunft, kostenfreie Ausbildung und andere soziale Leistungen - und begruben die Hoffnungen auf Redefreiheit, Reisefreiheit, Umweltschutz etc. eher schulterzuckend. Diese Verhaltensweise wird im Westen so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Dass viele der Ex-DDR-Bürger den alten „Wohltaten“ nachtrauern und diese – zusätzlich zur neuen Freiheit - auch im wiedervereinigten Deutschland einfordern möchten, sollte ihnen niemand übel nehmen. Die Konstruktion des Kapitalismus hat ihre Köpfe ebenso wenig erreicht/durchdrungen wie die der arbeitenden Bevölkerung im Westen. Wachstum (wie auch immer) und Arbeitslosigkeit, Raubbau an Natur und Rohstoffen, Verelendung großer Teile der Dritten Welt etc. sind nun einmal immanente Bestandteile der heutigen Strukturen. Dass ihre Protagonisten zunächst siegten, bedeutet nur, dass die überlegene Marktwirtschaft und die strategischen Kräfteverhältnisse das hergaben. Auf Dauer zementiert ist das nicht.
Wir sollten uns folglich auf Offenheit verständigen. Die Meinung der Ossis – sowohl der ehemaligen Dissidenten wie auch der „Restbevölkerung – muss Ernst genommen werden. Das Gleiche gilt für bereits etablierte und neu entstehende rot-rot(e)-(grüne) Bündnisse. Immerhin kann es nicht sein, dass die, die freie Wahlen vollmundig zur Grundvoraussetzung für Demokratie erklären, deren Ergebnis nur anerkennen, wenn es ihrem Gusto entspricht. Schließlich müssen auch wir, die wir weder schwarz noch gelb gewählt haben, die schwarz-blonde Regierung und Jamaika akzeptieren – obwohl das vielen von uns mehr als Schmerz bereitet.
Ich selbst komme aus der ehemaligen DDR und kann heute beide Systeme recht gut beurteilen. Vielleicht ist dieser Beitrag Anlass für eine überfällige Diskussion. Ich bin auf Eure Meinung gespannt und … korrigiere mich auch, wenn Eure Argumente stichhaltig sind.
Ulrich Scharfenorth, Ratingen
www.stoerfall-zukunft.de
Kommentare 7
lieber uli, deine grundsatzrede dürfte bei vielen hier auf verständnis und mehr treffen. das ist meine einschätzung.
mit deinen thesen und fragen bin ich jedenfalls einer meinung. nur in einem punkt sehe ich die entwicklung entschieden anders:
für mich ist es kein grund zu jubeleien, dass die brd die ddr übernahm. dieser anschluss gefällt vor allem denjenigen, die dadurch mehr macht und reichtum entfalten konnten/können.
mir aber wäre aus historischer sicht eine eigenentwicklung der ddr lieber/zeitgemäßer gewesen. in richtung demokratischer sozialismus z.b.
die sogenannte wiedervereinigung geschah aus der tradition des nationalstaats, als hätte der noch eine zukunft. die freude über die neue nationale einheit passt, meine ich, besser ins 19. jahrhundert als in unsere gegenwart und zukunft.
die mauer musste weichen, klar. das war auch kein zukunftsmodell. aber der nationalstaat, speziell der vergößerte, der auf machtzuwachs aus ist, verspricht nichts gutes. er ist bei aller europa-integration ein zug nach vorgestern (mit verspätung).
Vielleicht erstmal so als erste Idee:
www.blaetter.de/artikel.php?pr=3141
Mir fällt bestimmt noch mehr ein.
Auf freitag.de lief mal das Folgende:
www.dctp.tv/?ref=freitag=87609;/#/dezember-1989/ddr_momper_im-zentrum-des-orkans-wusste-keiner-was
Danke für den Kommentar, lieber Helder. Über eine möglich gewesene eigenständige Entwicklung der ehemaligen DDR zu fachsimpeln, hat heute nur theoretischen Wert. Das weißt Du so gut wie ich. Folglich ist auch die Mutmaßung, dass es hätte gelingen können, einen besseren, demokratischen Sozialismus aufzubauen, Spekulation. Ich persönlich glaube, dass das weder die Demonstranten und Mauerstürmer, noch der kapitalistische Westen zugelassen hätten. Erstere wollten kopflos (das ist keine Verunglimpfung!) raus aus allem, was nach Sozialismus roch, letztere nur kleinschlagen und die Positionen übernehmen.
Was die Nationalstaats-Diskussion angeht, so gebe ich Dir prinzipiell Recht. Im Zeichen Europas sollte sie ad acta gelegt werden. Dem stehen jedoch starke, "national" gesinnte Kräfte entgegen - vor allem die - die Deutschland als Nettozahler für Brüssel bejammern. Dabei haben Wirtschaft und Kultur längst andere Weichen gestellt und die Vorteile eines geeinten Europas für sich vereinnahmt.Der einfache Bürger bleibt da noch weitgehend außen vor. Er profitiert zwar vom gefestigteren Frieden und gefallenen Grenzen (was er kaum wahrnimmt/zu schätzen weiß), dürfte aber erst dann zu begeistern sein, wenn ihm materielle, ja vielleicht auch ökologische Vorteile zuwüchsen. Ähnlich attraktiv könnte ein Mehr an Sicherheit für die Arbeitsplätze sein - herbeigeführt durch eine europaweit agierende Arbeitnehmervertretung , die solidarisches Verhalten von Arbeitnehmern in europäischen Dependencen des gleichen Unternehmens sichert.Auch davon sind wird weit entfernt. Noch geschieht gerade das Gegenteil (nur ein Beispiel: Opel.
In diesem EU-Kontext liegt die Frage nahe , ob sich eine separat entwickelnde "neue" DDR, umgeben von "gewendeten" Ostblockstaaten und westlicher Begierde/Schmäh Bestandteil Europas geworden oder allmählich doch von der Landkarte verschwunden und "geschluckt" worden wäre. Ich neige sehr zu dieser letzten Variante. Ein neues Sozialismus-Modell ist vorerst nicht im Sicht und dürfte im Umfeld starker, properierender westlicher Wirtschaft auch kaum Raum finden. Ich tippe da eher auf Südamerika oder auf eine Zeit in zwanzig/dreißig Jahren, bis zu der wir abgewirtschaftet haben dürften und einer grundlegenden Erneuerung bedürfen.
Eine Spaltung einer Nation kann ich nie bedauern, oder gar dann eine Einheit zurückwünschen. Meistens bedauern solche Einheits-Meinungen nie die Spaltung einer Gesellschaft, die als Zwang in einer Nationalität weiter aneinandergekettet bleibt.
Um es genau zu sagen: Die Wieder-(Vereinigung) war keine Befreiung. Es war die Rückführung in eine, eine Klassengesellschaft im globalen Maßstab.
Heute feiern alle Beteiligten den Sieg der neoliberalen Phase des Kapitalismus, d.h. der Weltzerstörung.
Herzlichen Dank,GerhardHM, für die durch die Links vermittelten zusätzliches Infos. Sie ergänzen und bestätigen die von mir beschriebene Finsternis im Geschehen. Interessant vor allem: das Kontaktiren von Momper durch DDR-Offizielle einige Tage vor dem Mauerfall sowie die Tatsache, dass sich außer Krenz auch Gysi und Modrow als "Blutbadbewahrer" verstehen. Gysi z.B. behauptet, dass die Administrationin in der kritischen Zusammenbruchphase gar nicht mehr existiert habe - und folglich Krenz gar keinen "Stillhaltebefehl" habe durchsetzen können. Hier tun sich erneut Fragen auf, die m.E. dringend der Klärung bedürfen.
Ulrich Scharfenorth, Ratingen
www.stoerfall-zukunft.de
Sorry: nicht "Blutbadbewahrer" sondern "Blutbadverhinderer"!!!!
Ulrich Scharfenorth
.....Aber natürlich kann es sein, es war, es ist so und es wird weiterhin so sein ..., born2bmild. Meine Passage fokussierte ein nicht existierendes Idealbild und war ironisch gemeint.