Noch mehr Chaos in den Schulen?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Mittelschule Oberschule, Gymnasium, Regionalschule, Sekundarschulen, Einheitsschule,Stadtteilschulen , Werkrealschule, Gemeinschaftsschule, Primarschule („Rheinische Post“, 10. Juli 2010)... bin ich denn irre?

Der Streit um die Primarschule in Hamburg, aber auch die für NRW zu erwartenden Schulkämpfe beweisen nur eines: so idiotisch wie in Deutschland geht es – was das Bildungssystem angeht – nirgendwo zu. Jahrzehntelang durften die Länder im föderalen Murx experimentieren – doch statt praktikabler Lösungen, die man aufs Ganze hätte übertragen können, gibt es unterschiedlichste Bildungs-Niveaus bei gleicher Anzahl besuchter Klassen und gleicher Noten, Inkompatibilitäten zwischen den Lernständen und Lernergebnisse einzelner Länder und PISA-Noten, die zum Himmel schreien. Der Normalbürger, den die Vielfalt niemals begeistert, immer aber verwirrt hat, begreift nur langsam. Hier ging es weniger um Wettbewerb, was die geeignetste Schulform angeht, sondern ausschließlich um Besitzstandswahrung für die Eliten. Die Töchterchen/Söhnchen der Wohlhabenden/Gebildeten, die hier zu Lande ohnehin eine 2-3fach größere Bildungschance haben als Schüler aus bildungsfernen Schichten, mussten es gleich bleibend, sprich: unverändert gut haben. Spätzünder aus prekären Familien hingegen sollten als lästige Bremsklötze für (oft vorgebliche) Überflieger nach wie vor rechtzeitig ab- und ausgesondert werden. Vielfach gelang es dann, Feigenblätter zu setzen, etwa nach dem Motto: wenn denn der Ausgesonderte/die Ausgesonderte plötzlich zur Hochform aufliefe, könne er/sie immer noch in die attraktivere Schule wechseln. Dennoch bleibt die im dreigliedrigen Schulsystem vorgesehene frühe Entscheidung darüber, ob ein Kind nur hauptschulfähig oder aber fällig fürs Gymnasium sei, höchst ungerecht. Hauptsächlich deshalb, weilsie Kindern aus problematischen Milieus, die häufig eine zunächst unterentwickelte Disposition zeigen und deren Talente (weil kaum gefördert) erst später zu Tage treten, die Erfolgs-Chancen abschneiden. Sind diese Schüler erst einmal auf die „Hauptschul“- Route gebracht, überkommt sie häufig die Depression (ich habe versagt). Darüber hinaus werden Motivation, Vorbilder und erstrebenswerte Zielgrößen rar. Genau das Gegenteil widerfährt den „Erfolgreichen“. Sie finden auf den gymnasialen Wegen fast alles, was sie voranbringt.

Obwohl unser Land dringend gute Facharbeiter und Ingenieure braucht, sind die Konservativen offenbar fest entschlossen, den Anteilan un- und wenig gebildeter/ausgelieferter/williger Substanz in unserem Volk festzuschreiben. Dabei ist längst klar, dass auchaus bildungsarmen Schichten Menschen erwachsen, die für Nobelpreise gut sind. Man muss sie nur aufspüren wollen.

Ich persönlich kenne mindestens fünf Menschen, die aus armen Arbeiterfamilien stammten und heute als Doktoren in Forschung und Lehre stehen.

Gewiss: Je höher der Bildungsstand einer Bevölkerung ist, desto mehr begreift sie – auch jenseits des Fachwissens. Und so dürfte es den „Weltwagenlenkern“ offenbar darauf ankommen, das Wissen vor allem dort zu deckeln, wo systemische Unwägbarkeiten drohen. Vielleicht nach dem Motto: Bildung dürfe inbestimmten Ecken nicht schneller wachsen als die Abgefeimtheit der Umweltvernichter und Spekulanten. Angesichts der wachsenden Wissensanforderungen, die ein immer härterer Wettbewerb auf den Weltmärkten täglich gebiert, tut sich hier ein verhängnisvoller Spagat auf. Einerseits hoffen die Mächtigen im Land ohne Rohstoffe auf die Kraft der Intelligenzia, zum anderen fürchten sie sie.

Nun, wir werden China, Indien, Brasilien und Russland selbst bei „Bildungskopfständen“ nicht Paroli bieten können. Weder in der Wirtschaftskraft und der Exportfähigkeit, noch im Wissenspotential. Bevölkerungsentwicklung und Wahrscheinlichkeitsrechnung sprechen hier eine deutliche Sprache. Dennoch sollten wir uns der Erkenntnis nicht nur ausliefern, sondern nachdenken, wie wir ihr begegnen könnten.

Das Ergebnis fällt für mich hoch politisch aus: Wir müssten zum einen sicher stellen, dass unser Wissensvorsprung erhalten bleibt. Und dieser Vorsprung darf nicht im „Weiterso“ gipfeln. Er muss für einen Paradigmenwechsel nutzbar gemacht werden (weg von der Verschwendergesellschaft, hin zur nachhaltig wirtschaftenden und lebenden Gesellschaft; weg vom Freihandel zwischen ungleich Starken – Rückkehr zur regionalen Produktion und Vermarktung).

Auf die Schule von morgen bezogen heißt das: Weg von der föderalen Ordnung im Bildungswesen, wo immer es sinnvoll ist; einheitliche Entscheidung für das Abitur nach 12 oder 13 Klassen; gleiche Schulformen in allen Bundesländern – parallel existierende Schulformen in der Übergangsphase: gegliedertes Schulsystem und Gemeinschaftsschule, mittelfristig: nur noch Gemeinschaftsschule; als Option für „Überflieger“ : kostenfreie Turbo-Internatsschulen – Zugang ausschließlich nach dem Leistungsprinzip;intensive Betreuung und Förderung benachteiligter Kinder im Vorschul-Leben (Ziel: gleiche Startchancen bei Schulbeginn), gemeinsames Lernen bis mindestens zur sechsten Klasse (dabei kostenfreier Einsatz von Tutoren zum „Aufbrechen von Spätzündern“ – auch online im Unterricht); Ausbildung eines neuen Lehrertyps: „weiterbildungswillig“, kreativ, einfühlsam, durchsetzungsfähig. Wer diese Eigenschaften nach zwei Studienjahren nicht überzeugend nachweist, muss den Studiengang verlassen. Das heute noch vorhandene Image des Lehrerberufes (das schaffst du immer; da gibt’s viel Freizeit) stirbt aus sich heraus. Die Schule muss zur interessanten, praxisorientierten Erlebniswelt werden, in der heute ausgeblendete/gedeckelte Wissensgebiete gezielt integriert werden. Die Aussage „Ich habe kein Mathe- oder Physik-Gen“ darf künftig nicht ungeprüft durchgehen. Bei Blockaden ist Förderung angesagt, da unsere Gesellschaft bei der derzeitigen Akzeptanz für Wissenschaft und Technik (und den daraus resultierenden Studentenzahlen)keine Zukunft hat. Die Bildung der Menschen muss dem komplexen Charakter unserer Welt mit ihren unzähligen Wechselwirkungen Rechnung tragen. Dabei spielen ethische Fragen, vor allem die Verantwortung der Wissenschaft für ihre Forschungsergebnisse eine zentrale Rolle. Jeder, der später die Bombe baut, muss wissen, dass ihr Verkauf und Einsatz programmiert sind – ganz gleich, ob uns nobel erscheinende Ziele/ Verheißungen oderFreisprechversuche/kirchliche Absolutionen etwas anderes suggerieren.

Dr.-Ing. Ulrich Scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden