Schöne Aussichten

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Der Wirtschaftsweise und RWI-Chef Christoph M. Schmidt hat es uns erneut gezeigt: Wir leben allenfalls– verzeihen Sie den Vergleich –in „kriegsähnlichen“ Zuständen. So zumindest muss ich seinen Interview-Part deuten:

„Die Fundamentaldaten für Deutschland sind in Ordnung. Wir haben gut ausgebildete Fachkräfte, einen modernen Kapitalstock und nach den Hartz-IV-Gesetzen einen modernisierten Arbeitsmarkt […] Das Konjunkturpaket hätte mehr Steuererleichterungen enthalten können […] Die Globalisierung hat Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt […] 2010 geht es wieder aufwärts.“(„Rheinische Post“, 24. Dezember 2009).

Dieser Mann trägt Scheuklappen oder was wahrscheinlicher ist, eine grell-gelbe Fibel in der Tasche. Die Wirklichkeit sieht anders aus:

1)Die Fundamentaldaten – dazu gehören zweifellos auch die Verschuldung der Bundesrepublik, die steigende Arbeitslosigkeit, die fallenden Nominallöhne –sind alles andere als in Ordnung. Sie mögen allenfalls für diejenigen akzeptabel erscheinen, die eine neue Hausse in Wirtschaft und Finanzsystem ansteuern und dazu permanent Steuererleichterungen für Unternehmen, geringere Erbschaftssteuern sowie eine weitere Entlastung der Banken einfordern.

2)Wir haben dank eines maroden, unterfinanzierten Bildungssystems viel zu wenige, gut ausgebildete Fachkräfte (fast 30% der Lehrstellenbewerber werden wegen fundamentaler Wissensmängel abgewiesen etc.). Es fehlen Tausende von Ingenieuren.

3)Die Ungleichverteilung von privaten Vermögen hat in Deutschland ein völlig inakzeptables Maß erreicht. Große Teile des Kapitalstocks wurden in der Krise auf Kosten des Steuerzahlers „restauriert“. Stabil ist er dennoch nicht.

4)Die Agenda 2010 und Hartz IV haben zu einer tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft geführt, wobei HARTZ IV, Leiharbeit und Dumpinglöhne nur Arbeitgebern Vorteile brachten, 7 Millionen Menschen hingegen in eine würdelose Abhängigkeit am Existenzminimum mit folgender Altersarmut verstießen.

5)Welche weiteren Steuerleichterungen auf Kosten weiterer Verschuldung meint Schmidt? Er benennt sie natürlich nicht. Nicht der arme Konsument, der die Binnenkonjunktur stärken könnte, ist gemeint. Es geht ausschließlich um die Unternehmen – mit überproportionalen Vorteilen für die großen Kapitalgesellschaften.

6)Wo sieht Schmidt Hunderte von Millionen Menschen, die von der Globalisierung profitierten? In China, wo (sich gut summieren lässt und) das westliche Wirtschaftsmodell abgelehnt wird?

Es ist bezeichnend für die Wegweisungen Schmidts, dass er solche Fakten erst gar nicht aufkommen lässt. Dieser Mann setzt erneut auf die „allein selig machenden Kräfte des Marktes“, die er durch Steuergeschenke an Wirtschaft und Finanzbranche beflügeln möchte. Dass er den Normalbürger damit noch intensiver zum „Arbeitstier“ degradiert, nimmt er billigend hin. Wer hier die Karre maßgeblich aus dem Dreck zieht und für veruntreutes Geld zahlt, ist ohnehin abgemacht.

Nach einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schafft esnur jeder Achte, der Stigmatisierung durch Hartz IV zu entkommen – hauptsächlich deshalb, weil die „Förderung“ der Arbeitswilligen ein Flop wurde. Diese Menschen bleiben mehrheitlich dort, wo sie sind und ihre Chancen auf ein erfülltes Leben gleich Null. Wer von Ihnen zum Fest eine Reise zu Verwandten, beispielsweise von Düsseldorf nach Cuxhaven, unternehmen wollte, musste es angesichts der 120 € lassen. Niemand gewährte hier Unterstützung. Auch die Botschaften, dass Kindergeldzuschläge mit dem ALG II verrechnet werden sollen und dies auf weihnachtliche Geldzuwendungen bereits zutrifft, gehören in dieses Raster. Von der vollmundigen, inzwischen offenbar vergessenenAnsage, den Selbstbehalt bei Arbeitslosen zu erhöhen, ganz zu schweigen.

Wenn Schmidt angesichts dieser Tatsachen von einem modernisierten Arbeitsmarkt spricht, ist das reiner Hohn. Menschen wie er haben das halbe Volk – und dessen sozialen Anspruch – bereits vergessen.

2010 geht es sicher wieder aufwärts – fragt sich …. für wen.

Dr. Ulrich Scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

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