"Stuttgert21" und die blanke Wut

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Dass sich jetzt in Stuttgart der Volkszorn entläd, hätte man mit etwas Gespür ahnen können. Denn die Verdoppelung eines Milliarden-Aufwandes für etwas, das man im Grunde nicht braucht – das nur eben schön aussieht und als Vorzeigebauwerk herhalten kann – geht selbst denen in die Nase, die das Projekt kaum kennen. Gleichzeitig schwimmt die Erinnerung daran auf, dass CDU-OB Wolfgang Schuster am 5. Oktober 2007 den damals mit Grünen-Chef Johannes Bräuchle vereinbarten Bürgerentscheid hintertrieben und Fakten geschaffen hat – mit heimlich vorgezogenen Vertragsunterschriften („DIEZEIT“, 23. September 2010). Heute sind allenfalls Bauherr und beteiligte Firmen, heute ist allenfalls die Politik geneigt, sich dem scheinbar Unabwendbaren hinzugeben. Diesen Protagonisten ist klar, dass Investitionsvolumina mit fortschreitender Zeit einfach wachsen und Genehmigungen dennoch halten müssen, was ihnen innewohnt. Häufig waren sie Zeuge, dass ein Projekt tiefgestapelt allein ins Rennen und schließlich auf erste Plätze geriet – um dann bei Inbetriebnahme alle Kostenrahmen zu sprengen. Zweit- und Drittplatzierte – oftmals mit solideren Lösungen zu teuer – blieben oft auf der Strecke. Mit ihnen konnte niemand Staat machen, weil zusätzliches Geld zum Zeitpunkt der Ausschreibung einfach fehlte und damit das Ding an sich in Frage gestellt war.

Der Betrug war auch bei „Stuttgart 21“ (mit der dazugehörigen Neubaustrecke nach Ulm) vorprogrammiert – fehlten doch belastbare Untersuchungen selbst des bahnhöflichen Untergrundes. Die schwierige Beschaffenheit des Bodens in Stuttgart und Umgebung - mit Hohlräumen, Anhydrit und Grundwassersenken – könnte – so eine renommierte Wochenzeitung - den Bau in die Länge ziehen, weiter verteuern und sogar zum Einsturz bringen („Süddeutsche Zeitung“, 18. August 2010).

Aus den vor Jahren verabredeten 2,6 Milliarden Euro für den Bahnhofsumbau sind bis zum Frühjahr 2010 offiziell 4,1 Milliarden geworden. Aus den 2,9 Milliarden Euro für die von Güterzügen nicht befahrbare und vermutlich wenig frequentierte Neubaustrecke etwa 4,6 Milliarden Euro (aktuelle Studie des Münchner Verkehrs-Beratungsbüro Vieregg-Rößler) – sofern nicht o. a. Unwägbarkeiten die Kosten auf über 10 Milliarden Euro treiben („ZEITONLINE“, 8. September 2010).Auch ein neues Gutachten des Umweltbundesamt führt zu Gesamtaufwendungen von 9 bis 11 Milliarden Euro – einschließlich der neuen ICE-Strecke. Davon würden 4 Milliarden Euro auf den Bund und 1,8 Milliarden auf das Land Baden Württemberg entfallen. Dem halten Projektbefürworter einen Sicherheitsfond entgegen, der Mehrkosten – wenn auch nicht in der hier aufgeführten Höhe – auffangen könne. Gefangen hat er schon, jetzt aber läuft die Suppe über.

Für das Kampagne-Netzwerk „Campact“ ist die Sache klar: Wenn jetzt für „Stuttgart 21“ Milliarden Euro sinnlos investiert würden, fehlten diese dort, wo sie gebraucht werden - beim Ausbau des Bahnverkehrs als klimafreundliche Alternative zu Auto und Flugzeug sowie bei der Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene. Dazu gehören die völlig überlastete Rheintal-Schiene, die Strecke Frankfurt-Mannheim sowie diverse dringende Projekte im Nahverkehr. Mit „Stuttgart 21“ dürfte auch der Ausbau verschiedener Güterverkehrsstrecken aufgeschoben werden.

Soweit die Sachverhalte. Was bisher außen vor blieb, ist der Protest der Bürger. Sie nämlich spüren, dass der Staat den Folgen der Finanzkrise nicht mit noch mehr Schulden begegnen kann und folglich angehalten ist kurz zu treten. Und sie wissen auch, dass bei den Bodenuntersuchungen, sprich: bei den Kosten, gemogelt wurde. Fragt sich, ob die Instanzenreiter – und dazu gehört auch unsere Kanzlerin Merkel – ihre Ansprüche durchsetzen und die Weiterführung des Vorhabens befehlen.

Für mich jedenfalls sind erfolgreich absolvierte Genehmigungsverfahren, beeindruckende Baupläne, abgeschlossene Projektverträge und Finanzierungsvereinbarungen allein kein ausreichender Grund dafür, eine Sache wie „Stuttgart 21“ weiter durchzuziehen. Spätestens heute wäre der Gesetzgeber aufgerufen, die Neuauflage des Verfahrens zu beschließen – und gleichzeitig festzulegen, ab welcher (Kosten-)Überziehung ein solcher Schritt zwingend nötig wird.

Ebenfalls heute liegt es auf der Hand, den „abgewürgten“ Bürgerentscheid nachzuholen. Dabei müsste sicher gestellt sein, dass ein Sieg der Neubaugegner zur „bauhausgemäßen“ Restaurierung und Sanierung des alten Bahnhofs führt. Ein Teil der geplanten Mittel – zumindest die Zuschüsse von Land und Bahn – wäre dann zwar weg. Doch die Stadt könnte umschichten – zugunsten von mehr Nachhaltigkeit.

Ginge der Entscheid anders aus, gäbe es für die alte Substanz keine Rettung. Und der folgende Kommentar träfe dann ebenso schonungslos zu wie für den Fall, dass der Neubau mit Gewalt durchsetzt würde: „Der Respekt vor dem Wahrzeichen der Stadt, der Würde und Zeitlosigkeit des Gebäudes geht der Stadtverwaltung ebenso ab wie den Betreibern, die nicht in der Lage sind, einen Plan B unter Wahrung der historischen Bausubstanz zu entwickeln [...]. Diebereits begonnene Amputation ist hilfloses Herumdoktern an einem ungeliebten, schon beinahe aufgegebenen Patienten. Damit ramponiert die Stadt nicht nur ihr bedeutendstes Denkmal der beginnenden Moderne, sondern auch sich selbst“(„FAZ“, 28. September 2010).

Derzeit sieht es so aus, als ob die Militanz des Staates obsiegt. In selten erlebter Brutalität gehen Wasserwerfer und Reizgasauf die Demonstranten nieder. Hunderte von ihnen sind bereits verletzt. Sie haben sich dem Räumungsbefehl und damit dem Abholzen von fast 300 Bäumen widersetzten wollen („Rheinische Post“, 1. Oktober 2010). Vermutlich umsonst. Die Überhärte der Polizei als Reaktion auf ein paar fragliche Pflastersteine zu verstehen, wäre naiv. Hier geht es um das Machtmonopol der Regierenden, um heuchlerischen „Pro-Forma-Demokatismus“, um große Geschäfte und nur am Rande um die Aufkündigung eines Dialogs, der keiner war. Denn zwischen dem alten Kopfbahnhof und Stuttgart 21 sind Kompromisse nicht denkbar.

Gut möglich, dass die Volksseele jetzt überkocht, dass es in den kommenden Tagen immer weniger um Stuttgart 21, sondern eher darum geht, dass der Willen der Bürger auch anderswo sträflich ignoriert wird. Denkbar auch, dass der Brand militant gelöscht wird, um wenig später in ein neues Verdunklungsspiel zu münden. Schon jetzt hat CDU-Generalsekretär Strobl die Proteste totschlaggemäß als linksextremistisch verortet ... und die Wahrheit bewusst ausgehebelt. Morgen schon könnte man neue Gutachter benennen, die anders bezahlt im verbliebenen Brei stochern. Ob solche Leute den realen Gefahren ins Auge schauen oder auch nur verschlimmbessern würden, steht in den Sternen. Sicher ist, dass Big Business, dass die Vorzeige-Geilheit von Stadt- und Landesfürsten auch nach der Schlacht latente Dynamik besitzen. Davor sind wir nur sicher, wenn das Vorhaben scheitert.

Dr.-Ing. Ulrich Scharfenorth, Ratingen

www.stoerfall-zukunft.de

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Geschrieben von

Scharfenorth

Bis 1990 fuer die DDR-Stahlindustrie tätig. Danach Journalist/ Autor in Duesseldorf. 2008: "Stoerfall Zukunft"; 2011: "abgebloggt" und Weiteres

https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Scharfenorth

Scharfenorth

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