Die alternative Reality-Show

Fernsehen In "Newtopia" greift SAT.1 die Sehnsucht vieler Menschen nach Veränderung auf. Dahinter steckt weniger eine gesellschaftliche Vision, als vielmehr ökonomisches Kalkül

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Die alternative Reality-Show

Foto: David McNew/AFP/Getty Images

Eigentlich müsste ich begeistert sein: 15 Menschen verlassen ihr bisheriges Leben, um gemeinsam eine neue Welt zu erschaffen. Mit einem Stück Land, einer Scheune, ein paar Tieren und ein wenig Startkapital beginnen sie ein Abenteuer ohne Regeln, ohne Gesetze und ohne Machtverhältnisse. Das Ziel: Utopia soll Wirklichkeit werden. Der berühmte fiktive Ort, an dem alle Menschen glücklich und zufrieden sind, soll endlich real werden.

Was sollte ich daran auszusetzen haben? Schließlich verfolge ich mit meiner politischen Arbeit und dem Leben in einer Kommune doch ein sehr ähnliches Ziel: Ich versuche herauszufinden, welche alternativen Gesellschaftsentwürfe sich umsetzen lassen, damit wir Herrschaft verhindern und allen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen können.

Würde ist ein gutes Stichwort. Denn es gibt bei dem oben erwähnten Experiment unter dem Titel "Newtopia" einen großen Haken: Das Ganze ist ein Projekt von SAT.1. Ganz im Stil von "Big Brother" oder "Das Dschungelcamp" werden die Menschen hier zu bloßen Unterhaltungs-Objekten. Es geht nicht darum, ob und wie sie glücklich werden, sondern vielmehr wie sie sich gegenseitig davon abhalten. Friede, Freude, Eierkuchen? Das möchte doch niemand sehen. Viel interessanter sind Intrigen, Machtspiele und Liebesdramen. Einschaltquoten sind wichtiger als eine gesellschaftliche Vision.

Klassische Stereotype

Also sorgen die Produzent*innen dafür, dass es nicht langweilig wird. Es beginnt schon mit der Zusammensetzung der Gruppe – oder der "Pioniere", wie SAT.1 sie nennt. Von vorneherein werden klassische Stereotype benutzt, um die Konfliktlinien festzulegen: Die junge Veganerin, die verhindern will, dass Tiere geschlachtet werden. Der trendige Key Account Manager, für den der wirtschaftliche Erfolg im Mittelpunkt steht. Der linke Politikwissenschaftler mit Erfahrungen aus der Besetzer*innenszene. Das Model, das Armut einfach doof findet. Der attraktive Fitness-Trainer, der sich nach der großen Liebe sehnt. Und so weiter.

All diese Menschen werden gemeinsam in eine neue Umgebung geschmissen – ohne dass sie sich irgendwie aufeinander einstellen können. Es gibt keinerlei Unterstützung in Form von Kommunikations- oder Konfliktlösungsstrategien. Ihr jeweiliger Hintergrund, ihre Sozialisation spielen keine Rolle, genauso wenig wie der jahrelange Einfluss des kapitalistischen Systems, der natürlich seine Spuren hinterlassen hat. Aber dessen Konzepte sollen ja auch nicht wirklich hinterfragt werden. Geldsystem? Lohnarbeit? Informelle Hierarchien? Natürlich taucht das alles wieder auf, wenn vorher keine Alternativen entwickelt wurden.

Pausenlose Beobachtung

So dauert es nicht lange, bis es zu den ersten Meinungsverschiedenheiten kommt. Natürlich ist die Kamera immer dabei, vor allem bei solchen Gesprächen, in denen ausgiebig über nicht anwesende Personen hergezogen wird. Dass sich die pausenlose Beobachtung im Verhalten der Teilnehmer*innen niederschlägt, steht wohl außer Frage. Immerhin hören sie nicht die frechen Kommentare des Moderators. Die sind den Zuschauer*innen vorbehalten, damit sie die Situationen auch ja richtig einordnen, also zum Beispiel als "heißen Flirt" oder "spannungsgeladenen Abend".

Zum Glück gibt es die Möglichkeit, jede Woche eine*n der Utopist*innen rauszuschmeißen – ein weiteres Element zum Spannungsaufbau. Wie ein gleichberechtiges und selbstbestimmtes Leben möglich sein soll, wenn ich ständig befürchten muss, das Projekt zu verlassen, wenn ich mich unbeliebt mache, ist mir schleierhaft. Aber so ein bisschen Wettbewerb hat ja noch nie geschadet, oder? Und außerdem ist das eine wunderbare Möglichkeit, die Zuschauer*innen einzubeziehen: Sie können ebenfalls abstimmen – und darüber hinaus ein kostenpflichtiges Online-Abo abschließen, um immer auf dem neuesten Stand zu sein.

Beleg für Alternativlosigkeit

Es ist bemerkenswert, dass es ein Begriff wie "Utopie" inzwischen sogar ins Privatfernsehen schafft. Nur wird eine solche Sendung nicht dazu beitragen, dass sich die Menschen tatsächlich mit ihm auseinandersetzen – im Gegenteil. "Newtopia" ist nur Wasser auf die Mühlen der Befürworter des status quo: Sie werden das Experiment als weiteren Beleg dafür nutzen, dass Menschen nicht in der Lage sind, ohne Autoritäten zu leben. Dass es Regeln braucht, um uns zu zähmen. Dass es den Kapitalismus braucht, um uns zu motivieren und unsere Bedürfnisse zu befriedigen.

Das ist nicht überraschend, denn SAT.1 würde sich mit einer ernsthaften Alternative ins eigene Fleisch schneiden. Das Privatfernsehen gehört zu den großen Profiteuren des Systems. Einerseits hält es viele von uns mit Unterhaltung bei Laune, wenn sie abgekämpft und deprimiert von der Arbeit kommen. Andererseits verdient es Millionen an der Werbung, die uns zu weiterem Konsum antreiben soll. Wenn "Newtopia" zeigen würde, dass wir weder das eine noch das andere brauchen, wäre SAT.1 überflüssig.

Deutungshoheit nicht dem TV überlassen

Viel praktischer ist es also, wenn das Fernsehen uns davon überzeugt, dass jegliche Alternativen von vorneherien zum Scheitern verurteilt sind. So wird geschickt eine aktuelle Stimmung – nämlich die Sehnsucht der Menschen nach gesellschaftlicher Veränderung – aufgegriffen, aber gleichzeitig direkt wieder vom System absorbiert. Dumm ist das nicht. Umso wichtiger ist es, diesem "größten TV-Experiment aller Zeiten" etwas entgegenzusetzen – nämlich die vielen Ideen, die heute bereits in Projekten umgesetzt werden.

Als Beispiel sei Kommuja erwähnt, das Netzwerk politischer Kommunen in Deutschland. Über 30 Gemeinschaften gehören inzwischen dazu. Grundpfeiler sind die gemeinsame Ökonomie und das Konsensprinzip:

"Kommuja ist ein Netzwerk politischer Kommunen. Wir wollen ein gleichberechtigtes Miteinander, Machtstrukturen lehnen wir ab. Wir wollen die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und uns vom herrschenden Verrechnungs- und Besitzstandsdenken lösen."

Im Gegensatz zu "Newtopia" haben sich die Menschen hier bewusst zusammengeschlossen, weil sie eine bestimmte Vorstellung vom Leben haben. Sie haben meistens einen langen und intensiven Gründungsprozess hinter sich, in dem sie sich auf bestimmte Grundsätze geeinigt haben. Und sie sind sich bewusst über ihre Sozialisation und ihre verschiedenen Erfahrungen im Kapitalismus.

Keine heile Welt

Natürlich gibt es auch in diesen Kommunen Konflikte, alles andere wäre unrealistisch. Wenn Menschen zusammenleben, reiben sie sich aneinander, weil unterschiedliche Charaktere aufeinander treffen. Die Frage ist, wie sie mit solchen Konflikten umgehen und Lösungen finden, mit denen alle Beteiligten leben können. Dabei schaut zum Glück nicht die halbe Welt zu – und trotzdem haben diese Prozesse eine Bedeutung über die einzelne Gemeinschaft hinaus. Denn wenn es darum geht, eine andere Art des Zusammenlebens zu etablieren, braucht es solche konkreten Erfahrungen.

Das gilt nicht nur für die Reibereien untereinander, sondern auch für externe Spannungsfelder. Die Kommuja-Gemeinschaften wollen keine Inseln sein und sich irgendwo am Rande der Gesellschaft ein exklusives Paradies aufbauen. Sie wollen wirksam sein und möglichst viele Menschen mitnehmen. Sie wollen praktisch zeigen, dass es weder ständiges Wachstum noch Konkurrenz braucht, um zufrieden zu sein. Sie setzen sich bewusst mit ihrer Umgebung auseinander, einerseits mit den Menschen und andererseits mit den systemischen Strukturen.

Andere Antworten finden

Das führt immer wieder zu Herausforderungen, zum Beispiel, wenn es um die Finanzen geht. Geld soll idealerweise keine allzu wichtige Rolle mehr spielen, die Bedürfnisbefriedigung soll möglichst unabhängig sein von finanziellen Mitteln. Nichts desto trotz müssen sich solche Projekte irgendwie tragen. So stehen die einzelnen Kommunard*innen immer wieder vor der Frage, ob und wie sie Geld verdienen, wie viel nötig ist und welche Kompromisse sie dabei eingehen.

Jeden Tag vergleichen wir unsere Ansprüche mit der Realität und versuchen, unsere Ziele bloß nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist anstrengend, keine Frage. Aber auf der anderen Seite macht es Hoffnung, weil wir hautnah miterleben, dass es funktionierende Alternativen gibt. Weil wir auf unsere Fragen endlich andere Antworten finden. Weil wir unser Leben selbstbestimmt gestalten und unsere Probleme nicht mehr alleine lösen müssen. Und nicht zuletzt: Weil es Spaß macht, in Gemeinschaft zu leben und gemeinsam etwas aufzubauen.

Wohin die Reise dabei geht, werden wir im Fernsehen nicht erfahren. Wir müssen uns selbst auf den Weg machen, im täglichen Leben hinter der Kamera. Für den gesellschaftlichen Wandel gibt es noch kein fertiges Drehbuch. Es liegt an uns, es zu schreiben.http://vg06.met.vgwort.de/na/afb49ab756114e2e948cc0a389fa20c0

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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