Die Mär von der Objektivität

Journalismus Die meisten Medien bilden nur ab, was den hegemonialen Diskurs nicht verlässt. Es braucht eine Gegenöffentlichkeit, die sich der Forderung nach Neutralität verweigert

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es kommt einem Verbrechen gleich, Partei zu ergreifen. Als Journalist*in sollte ich mich niemals mit einer Sache gemein machen – ganz egal, ob die Sache gut oder schlecht ist. So habe ich es im Studium gelernt. Journalist*innen sollen neutral und objektiv berichten. Die eigene Meinung darf dabei keine Rolle spielen, und wenn doch, dann bitte nur in der Kommentarspalte. Mit dieser Berufsphilosophie hatte ich schon früh meine Probleme. Und inzwischen weiß ich: Ich habe andere Leitlinien.

So schön die Vorstellung auch sein mag, Objektivität gibt es nicht. Schon allein die Themenauswahl einer Redakteurin setzt bestimmte Schwerpunkte – und hinterlässt dabei fast zwangsläufig blinde Flecken. Jede*r Journalist*in ist geprägt von der eigenen Sozialisation, von Vorkenntnissen, Erfahrungen und Vorlieben. Externe Einflüsse wie Termindruck, die Entwicklung der Auflage, Klickzahlen, politische Einflussnahme etc. kommen hinzu.

Es gibt handwerkliche Regeln, die diesen Faktoren etwas entgegensetzen. Beispielsweise sollten möglichst immer alle Seiten eines Konflikts dargestellt werden. Und auch die jeweiligen Quellen sollten immer ersichtlich sein, sofern sie nicht geschützt werden müssen. Ich sollte mich beim Schreiben von Nachrichten daran orientieren, die wichtigsten Fragen zu beantworten (die so genannten W-Fragen: Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Welche Folgen?), ohne die Geschehnisse zu bewerten oder zu kommentieren. Nichts desto trotz passiert jeden Tag so viel, dass es unmöglich ist, in einer Zeitung oder in einer Nachrichtensendung alle Ereignisse – am besten noch mit dem nötigen Hintergrund – abzubilden.

Der Wert einer Nachricht

Was ist also wichtig genug, um darüber zu berichten? Es gibt eine Reihe von Nachrichtenfaktoren, die bei der Auswahl eine Rolle spielen, z.B. Neuigkeit, Relevanz, Nähe oder Komplexität. Weitere Faktoren sind Negativität oder der Bezug zu „Elite-Nationen“ und „Elite-Personen“. Diese kommunikationswissenschaftliche Herangehensweise findet Begriffe dafür, was wir täglich in den Medien erleben: Nachrichten werden selektiert und gewichtet, vereinfacht und personalisiert.

Sehr zugespitzt formuliert, kann das zum Beispiel heißen: Wir lesen hauptsächlich schlechte Nachrichten, die etwas mit Deutschland zu tun haben, zu denen „wichtige“ Personen etwas zu sagen haben. Einfache Kausalketten werden eher thematisiert als komplexe Zusammenhänge. Und ein Bezug zum Alltag schadet nicht, deshalb werden viele Themen krampfhaft „runtergebrochen“ auf die lokale Ebene. Vieles fällt dabei unter den Tisch.

Natürlich gibt es immer noch eine große Auswahl an Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehsendern und Hörfunkprogrammen, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen. Kleine Formate beschäftigten sich zum Beispiel ausschließlich mit Auslandsberichterstattung oder mit investigativen Recherchen. Und ein Redakteur der FAZ gestaltet seine Seite auch immer noch anders als eine Redakteurin der taz. Nichts desto trotz bilden die meisten Medien den Mainstream ab, das heißt, die orientieren sich an hegemonialen Meinungen und Vorstellungen.

Die Folgen der Medienkrise

Die Medienkrise, die nach 2000 mit dem Platzen der Dotcom-Blase eingesetzt hat, hat diesen Trend noch verstärkt: Die Ressourcen für die Arbeit von Journalist*innen schrumpfen, die Zeit für ausführliche Recherchen wird immer knapper und die Konzentration auf dem Medienmarkt schreitet voran. Hinzu kommen die persönlichen und politischen Verstrickungen von Journalist*innen, die vor zwei Jahren exemplarisch in der Satire-Sendung „Die Anstalt“ vorgeführt wurden.

Es geht mir nicht darum, in die rechtspopulistischen „Lügenpresse“-Rufe einzustimmen. Zum einen bin ich davon überzeugt, dass es viele Journalist*innen gibt, die einen ziemlich guten Job machen – oder es unter den gegebenen Bedingungen zumindest versuchen. Zum anderen halte ich Verschwörungstheorien für unrealistisch, die davon ausgehen, dass Angela Merkel täglich in den Redaktionen des Landes anruft, um Stimmung zu machen. Wahrscheinlich geht es gar nicht so sehr um einzelne Personen und Machtpositionen, sondern um die Dynamik, die sich aus Gewinnorientierung, kostenlosen Inhalten im Netz und politischem Einheitsbrei ergeben.

Radikale Fragen stellen

Die Menschen, die die „Lügenpresse“ angreifen, verfolgen andere Ziele als mein Blog-Artikel. Sie wollen die herrschende Meinung oder die aktuelle Regierung durch eine andere ersetzen. Mir geht es darum, die Rahmenbedingungen als Ganzes in Frage zu stellen und über die Grenzen des marktkonformen und nationalistischen Diskurs hinauszugehen.

Umso wichtiger ist es, Medienkritik mit einem emanzipatorischen und libertären Ansatz zu verbinden. Und genau dieser Anspruch bringt mich zu der Frage nach meinem eigenen Leitlinien als Journalistin. Darf ich mich so überhaupt noch nennen, wenn ich mich der vermeintlichen Objektivität verweigere? Meine Ausbildung erlaubt es mir, als Redakteurin aufzutreten. Doch Journalist*in ist dank der Meinungs- und Pressefreiheit keine geschützte Berufsbezeichnung. Grundsätzlich kann jede*r als solche*r tätig sein. Das lässt sich zwar auch wunderbar ausnutzen, bedeutet für mich aber, dass ich mir den moralischen und politischen Rahmen für meine Tätigkeit selbst stecken kann. Und ja, ich spreche bewusst von Moral und von Politik.

Medien reproduzieren Machtverhältnisse

Medien machen Politik – und dieser Tatsache unter der Flagge der Objektivität aus dem Weg zu gehen, halte ich für fahrlässig, denn es blendet bestehende Machtstrukturen aus. Abweichende Meinungen oder Ereignisse werden entweder kriminalisiert oder unsichtbar. Das Mediensystem reproduziert bestehende Machtverhältnisse, die ich nicht unterstützen, sondern aufbrechen möchte. Und das wird nur gelingen, wenn sich der gesellschaftliche Diskurs als Ganzer verschiebt.

Nehmen wir als Beispiel eine Diskussion über die HartzIV-Regelsätze. Es geht darum, ob Menschen zu viel Geld bekommen, obwohl sie nicht arbeiten bzw. ob sie zu wenig Geld bekommen, um damit ein würdiges Leben zu führen. Das dahinterliegende Verständnis unserer Gesellschaft, wie wir arbeiten, unsere Grundbedürfnisse befriedigen und wie Güter und Ressourcen verteilt werden, bleibt dabei gänzlich unhinterfragt. Die Debatte bleibt an der Oberfläche, weil es nur um die konkrete Ausgestaltung des Systems geht, das zwar die (ideologische) Grundlage für alles bildet, gleichzeitig aber im Hintergrund bleibt und nicht angetastet wird.

Gegenöffentlichkeit schaffen

Es gibt bereits viele Versuche, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, in der grundsätzliche Fragen gestellt werden: Wer profitiert von den herrschenden Machtstrukuren? Wo und wie werden Menschen unterdrückt und ausgebeutet? Welche ökonomischen Konzepte gibt es jenseits von Wachstum und Profit? Welche Möglichkeiten gibt es, Herrschaftsverhältnisse aufzulösen und zu verhindern? Welche Bedürfnisse haben wir und wie können wir dafür sorgen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich diese Bedürfnisse zu erfüllen?

Leider stoßen diese Versuche an viele Grenzen, vor allem an ökonomische. Alternative Medien erreichen nur einen überschaubaren Kreis an Rezipienten, oft auch nur im Dunstkreis einer bestimmten Szene. Nichts desto trotz ist es unabdingbar, die radikalen Fragen immer wieder zu stellen – so öffentlich und wirksam wie möglich. Es gibt genug Konzepte, Projekte und Diskussionsansätze, die beweisen, dass die viel zitierte Alternativlosigkeit uns bloß davon abhalten soll, selbst zu denken.

So vieles ist denkbar und machbar. Dafür muss es aber ausgesprochen und ausprobiert werden. Kritik an den herrschenden Verhältnissen ist wichtig, um die Widersprüche und blinden Flecken sichtbar zu machen (z.B. analyse&kritik). Gleichzeitig gibt es genug Material für eine konstruktive Berichterstattung (z.B. Perspective Daily, Contraste) die mit positiven Beispielen und konkreten Handlungsmöglichkeiten versucht, andere Wege aufzuzeigen und Ängste vor Veränderungen abzubauen.

Mit einer solchen Vision mache ich mich gerne gemein, denn nur so hat das Ganze eine Chance.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden