Die Qual der Wahl

Politische Strategie Die Kritikpunkte am Kapitalismus sind so zahlreich wie sein Warenangebot. Wo sollen wir anfangen und welcher Weg ist der beste, wenn wir wirklich etwas ändern wollen?

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Der Kapitalismus verspricht uns vor allem eines: Freiheit. Angeblich können wir tun und erreichen, was wir wollen, solange wir uns nur anstrengen. Alles liegt in unserer Hand. Wir haben die Wahl. Das gilt für unsere Karriere genauso wie für unsere Familienplanung, unsere Freizeitgestaltung – und natürlich für unseren Konsum. Das Angebot an Produkten und Dienstleistungen ist inzwischen so groß, dass es kaum noch möglich ist, den Überblick zu behalten. 50 Sorten Marmelade? Da sollte doch für jede*n etwas dabei sein.

Das Problem ist nur: Je größer die Auswahl, umso schwerer fällt uns die Entscheidung. Mit Erdbeeren und Aprikosen komme ich noch gut zurecht, aber wenn mehr als 15 Fruchtkombinationen vor mir stehen, kann ich mir kaum noch sicher sein, die leckerste Variante auszusuchen. So wird die Wahl zur Qual.

Kein Stress im Supermarkt

Eigentlich könnte ich mich entspannt zurücklehnen und sagen: Das ist nicht mein Problem. Zum Einen esse ich gar keine Marmelade. Zum Anderen konsumiere ich recht sparsam und stehe selten in Supermärkten, die so groß sind, dass ich mich darin verlaufen könnte. Konsumkritik und politischer Aktivismus haben durchaus seine Vorteile: An manchen Stellen kann Stress gar nicht mehr entstehen.

Dafür stehe ich nun aber vor einer ganz anderen Herausforderung. Sie hat auch mit bewussten Entscheidungen zu tun, mit dem Abwägen von Vor- und Nachteilen und mit den unzähligen Schauplätzen des Kapitalismus. Denn während wir jeden Tag mit neuen Produkten (und den passenden Bedürfnissen) um den Finger gewickelt werden, entstehen an anderer Stelle neue Probleme. Mit der Angebotspalette wächst automatisch auch das Ausmaß an Zerstörung und Ausbeutung:

Der Klimawandel rückt unaufhaltsam näher, Regenwald wird abgeholzt, die Meere verschmutzt. Immer neue Konflikte und Kriege fordern unzählige Opfer. Während ein kleiner Teil der Bevölkerung immer reicher wird, wird der Großteil immer ärmer. Tausende Menschen flüchten aus ihrer Heimat, verbringen ihr Leben in Lagern oder kommen auf dem Weg nach Europa ums Leben. Globale Konzerne verdienen Unsummen mit Waffen, Gentechnik oder Biopatenten. Die Zahl der psychischen Krankheiten in industrialisierten Ländern steigt unaufhörlich.

Lange Liste der Kritikpunkte

Na, wenn das mal keine Auswahl ist! Der Kapitalismus beschert uns nicht nur unzählige Marmeladensorten. Er gibt uns inzwischen auch so viele Möglichkeiten, ihn zu kritisieren, dass es genauso schwer ist, den Überblick zu behalten wie zwischen überfüllten Supermarktregalen. Wo sollen wir nur anfangen? Es gibt so viel zu tun.

Natürlich hinkt diese Analogie ein wenig. Schließlich saß nicht vor 30 Jahren irgendwo ein Marketing-Chef und hat sich überlegt, die ganzen Kapitalismusgegner*innen einfach mit der Fülle an Kritikpunkten zu überrollen, um sie handlungsunfähig zu machen. Aber es ist sicherlich ein mehr als nützlicher Nebeneffekt für die Befürworter*innen dieses Systems, dass es kaum noch möglich ist, die vielen negativen Auswirkungen wirksam zu bekämpfen und dabei das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren.

Zahl der Aktivist*innen steigt nicht

Seit langem versuchen engagierte Menschen, die Welt zum Positiven zu verändern. Sie tun dies auf ganz unterschiedliche Art und Weise und verzeichnen dabei auch immer wieder kleine Erfolge. Trotzdem fällt die bisherige Bilanz eher deprimierend aus, denn global betrachtet verschlimmern sich die Verhältnisse immer weiter – die obige Aufzählung, die nicht annähernd vollständig ist, hat es deutlich gemacht. Gleichzeitig bleibt die Zahl der politischen Aktivist*innen (zumindest in Deutschland) seit Jahren konstant. Das bringt natürlich die Frage auf: Haben wir die richtige Wahl getroffen? Verfolgen wir die richtige Strategie?

Selbst in einem politischen Zusammenhang wie unserer Kommune gehen die Meinungen dazu auseinander. Jede*r von uns hat einen etwas anderen Schwerpunkt und steckt seine Zeit in unterschiedliche Projekte. Sei es die solidarische Landwirtschaft, die Arbeit mit Geflüchteten, die Recht auf Stadt-Bewegung, die Geldkritik oder selbstorganisierte Medien. All diese Ansätze haben ihre Berechtigung und auch gute Argumente, weiterverfolgt zu werden. Aber wird sich irgendwann eine nachhaltige Veränderung einstellen? Oder laufen wir uns nur müde in einem der vielen Rädchen des (Anti-)Kapitalismus?

Unabhängigkeit ermöglichen

Zumindest in einem sind wir Kommunard*innen uns relativ einig: Es braucht alternative Strukturen. Schon allein deshalb wohnen, leben und wirtschaften wir gemeinsam. Das hat nicht nur ganz praktische Vorteile für uns selbst, sondern erbringt gleichzeitig den Beweis, dass ein solidarisches und gleichberechtiges Miteinander möglich und sinnvoll ist. Und: Es macht uns unabhängiger. Mein Mitbewohner hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Menschen oft gar nicht anders handeln können als Staat, Gesellschaft oder Chef es von ihnen verlangen. Wenn sie sich widersetzen, droht der Existenzverlust.

Daher ist sein Ansatz, die Menschen wieder in die Lage zu versetzen, sich selbst zu versorgen (Subsistenz) – und zwar nicht nur bezogen auf Lebensmittel, sondern auch auf Wohnraum und Arbeit. Kollektive Strukturen und gemeinschaftlicher Besitz sind in diesem Zusammenhang die zentralen Stichworte. Nur so könne eine politische Bewegung langfristig tragfähig bleiben und für Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen ein Option sein – und zwar auf Dauer anstatt nur für eine bestimmte Zeit. Die Aneignung der Subsistenzmittel kann dabei ganz unterschiedlich aussehen, von Besetzungen bis zu Genossenschaften.

Keine Macht der Konsument*innen

Bewusst ist uns dabei auch, dass mit dem Wandel eine Reduktion des Konsums einhergehen muss und wird. Gleich taucht der böse Begriff des Verzichts im Raum auf – und alle verlassen empört den Raum. Ich habe noch keine Antwort auf die Frage gefunden, wie sich diese Veränderungen vermitteln lassen. Aber vielleicht ist die Frage auch die falsche. Die Gewohnheiten, die Bedürfnisse und die individuellen Entscheidungen werden sich womöglich erst ändern, wenn die Rahmenbedingungen anders aussehen. Das heißt nicht, dass wir bis dahin nicht schon bewusst konsumieren können und dazu stehen. Aber als Zugpferd taugt die “Macht der Konsument*innen” offensichtlich nicht.

Wenn wir uns nun aber darauf konzentrierenn, funktionsfähige Strukturen aufzubauen, vernachlässigen wir nicht die akuten Missstände, die uns jeden Tag ins Gesicht springen? Wollen und können wir tatenlos zusehen bis die Katastrophe eintritt und plötzlich ganz viele Menschen auf unsere Strukturen zurückgreifen? Nein, das kann wohl auch nicht die Lösung sein. Es braucht auch die politische Auseinandersetzung, den öffentlichen Protest und die Unterstützung von Betroffenen.

Der Einheitsbrei der Alternativlosigkeit

Zwar setze ich keinerlei Hoffnung mehr in politische Entscheidungsträger und ihren Willen, zum Wohle der Bevölkerung zu handeln. Trotzdem ist es wichtig, in öffentlichen Diskursen deutlich Stellung zu beziehen und dem Einheitsbrei der Alternativlosigkeit nicht das Feld zu überlassen. Das kann sich auf bestimmte Themen und Entscheidungen beziehen, aber natürlich auch auf die Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit von Projekten.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich mit der Frage nach politischen Strategien auseinandersetze. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein, denn die Antwort ist nicht eindeutig und kann sich ändern. So macht es zum Beispiel schon einen Unterschied, ob ich sie für mich allein oder in einer Gruppe stelle: Ist es sinnvoll, wenn wir alle unsere eigenen Projekte verfolgen und dem System möglichst viele kleine Stiche versetzen? Oder sollten wir unsere Kapazitäten bündeln, um schlagkräftiger zu sein? Wollen wir mehr Menschen erreichen und wenn ja, wie? Wir haben die Qual der Wahl.

http://vg06.met.vgwort.de/na/7a2bed529bed4b05a64f52139f8deaef

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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