Ein offenes Wohnzimmer

Selbstorganisation Das Kasseler "Fachbeschäft für Interaktion" bietet Raum für Menschen, die sich selbst organisieren wollen – und experimentiert dabei noch mit den eigenen Strukturen.

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Der Name sorgt erst einmal für viele Fragezeichen. Ein Fachbeschäft für Interaktion - was bitte soll das sein? Im Gespräch mit den beiden Initiatoren Maike und Tobi wird mir schnell klar: Das Ganze ist ein Experiment, dessen Ergebnis noch nicht feststeht. Doch als Beispiel für selbstorganisierte Projekte kann es schon jetzt Impulse geben für Menschen, die vom ständigen Konsum genug haben. So wie ich.

In der Ecke prasselt ein Ofen, im Fenster liegt jede Menge Winterdeko. Das Licht ist gedimmt und auf dem Tisch steht eine Kanne mit dampfendem Tee. Maike und Tobi sitzen in ihrem Wohnzimmer. Seit Februar 2013 verbringen sie hier einen Großteil ihrer freien Zeit. Oft haben sie Besuch von Freunden oder von Künstlern aus der Region. Manchmal kommen sogar Menschen, die sie gar nicht kennen. Kein Wunder, denn ihr Wohnzimmer hat eine Besonderheit: Es ist öffentlich.

Sich ganz wie zu Hause fühlen

"Wir wollen einen Ort schaffen, an dem man sich zu Hause fühlt und einfach die Dinge tun kann, die man am liebsten tut", erzählt Maike. Gemeinsam mit ihrem Freund Tobi zog sie Anfang 2013 von Berlin nach Kassel und beiden war schnell klar: Wir müssen hier etwas tun! Inspiriert von den vielen Projekten, die sie in der Hauptstadt kennengelernt hatten, wollten sie auch hier einen Raum jenseits von kommerziellen Zwängen finden, in dem sie sich selbst entfalten und interessante Begegnungen ermöglichen können.

Nicht konsumieren, sondern sein

Maike ist sicher: "Es gibt in Kassel auf jeden Fall ein Bedürfnis für solche Räume." Ihr öffentliches Wohnzimmer, das seit Februar 2013 den Namen "Fachbeschäft für Interaktion" (FBI) trägt, soll dieses Bedürfnis stillen. "Hier muss man nicht konsumieren, sondern kann einfach sein, sich inspirieren lassen und jederzeit aktiv werden und mitmachen."

Das Konzept des FBI heißt Kooperation. Will sagen: Alle, die eine Idee haben, können die Räume nutzen, um diese in die Tat umzusetzen. Neben der Galerie mit Ofen stehen eine Küche, eine kleine Werkstatt, ein Raum mit Bühne, ein Lager, eine Bibliothek und ein kleiner Garten zur Verfügung. Insgesamt sind das rund 120 Quadratmeter. "Das ist der Rahmen, den wir bieten können – und daraus ergeben sich natürlich ganz viele Möglichkeiten", sagt Maike.

Los ging alles mit der Mittwochsküche. Hier werden jede Woche containerte Lebensmittel gemeinsam zubereitet, die am Abend zuvor aus den Mülltonnen verschiedener Supermärkte gerettet wurden. Gegen Spende gibt es dann ein abwechslungsreiches Abendessen und Getränke. Aus den Einnahmen werden Miete und Nebenkosten bezahlt. Die Mittwochsküche ist nicht nur Treffpunkt für alle Interessierten, sie ist gleichzeitig auch der Dreh- und Angelpunkt für alle Aktivitäten, die im FBI geplant werden.

Der Umsonstladen öffnet jede Woche

Hier entstand zum Beispiel der Kontakt zum Verein "Fairändern", der seit ein paar Monaten den kleinen Nebenraum der Galerie gemietet hat, um dort einen Umsonstladen einzurichten. Zwei bis drei Mal pro Woche öffnet der Laden und Menschen können Dinge kostenlos mitnehmen und abgeben. Regelmäßig finden Konzerte und Ausstellungen statt, zumal das FBI zur Kasseler Galeriemeile auf der Frankfurter Straße gehört. Auch für Workshops und Vorträge eignen sich die Räume gut.

Das FBI selbst arbeitet derweil noch an der internen Organisation. Vor kurzem fand das dritte Plenum mit rund zehn Leuten statt, um die Kommunikation untereinander zu verbessern und Projekte zu konkretisieren. "Das Ganze ist ein ständiges Experiment", sagen Tobi und Maike. Die beiden haben das FBI gegründet und sind auch weiter so etwas wie seine Hausmeister. Trotzdem wollen sie gerne Verantwortung abgeben und andere Menschen in die Organisation einbinden, damit zum Beispiel an jedem Wochentag ein Schlüssel zur Verfügung steht und sie auch guten Gewissens mal ein paar Tage abwesend sein können. Beide sind neben ihrer freiberuflichen Tätigkeit jede Woche an zwei bis drei Tagen im FBI aktiv.

Gemeinsame Gesellschaftskritik

"Es gibt so viele Ideen in den Köpfen der Menschen, aber die werden oft nicht aufgegriffen und umgesetzt. Hier gibt es die Gelegenheit dazu, aber sie muss auch genutzt werden", sagt Maike. Sie findet es spannend, zu beobachten, wie sich das FBI entwickelt und welche Dinge daraus entstehen. Kamen am Anfang vor allem Freunde und Bekannte in das öffentliche Wohnzimmer, sind bei der Mittwochsküche inzwischen oft um die 20 Gäste. Dank ihrer Öffentlichkeitsarbeit und der Mund-zu-Mund-Propaganda hat sich die Idee vom FBI rumgesprochen. Das Publikum ist bunt gemischt, teilt aber vor allem eine gewisse Gesellschafts- und Systemkritik. Maike nennt sie "Freigeister", die Lust auf Selbstorganisation haben.

Um das FBI finanziell zu unterstützen, wollen zwölf Kasseler Künstler gemeinsam einen Fotokalender für 2015 gestalten und den Erlös der Spendenkasse zukommen lassen. Als Unterabteilung ist das FBI dem Kasseler Verein zur Förderung von Kunst, Kultur und Kindern (Ku-Ki e.V.) angegliedert, handelt und wirtschaftet aber eigenständig. Obwohl die Mittwochsküche weiterhin gut läuft, ist Unterstützung immer willkommen – nicht immer ist die Miete gesichert und zusätzliche Anschaffungen sind schwierig.

Reparieren statt wegwerfen

An Ideen für die Zukunft mangelt es hingegen nicht. Tobi möchte gerne ein Repair-Café ins Leben rufen, bei dem Menschen defekte Gegenstände reparieren können, anstatt sie wegzuwerfen: "Ich bin Tischler und Veranstaltungstechniker, habe also halbwegs Ahnung von sowas. Andererseits bin ich gespannt darauf, von anderen zu lernen." Für ihn wäre ein Repair-Café auch Ausdruck einer konkreten Konsumkritik, weil Geräte oder Möbel weiterverwendet werden, anstatt neue zu kaufen.

Im FBI könnten sich Menschen mit unterschiedlichem Know-How zusammentun, um sich gegenseitig zu ergänzen. "Und langfristig wäre Upcycling natürlich auch eine spannende Sache", spinnt Tobi seine Idee schon weiter. Geplant ist außerdem ein großer Kühlschrank, der als so genannter "Fair-Teiler" dienen kann. Die noch junge Gruppe "Foodsharing Kassel" möchte regelmäßig und in Absprache mit Supermärkten solche Lebensmittel einsammeln, die eigentlich im Müll gelandet wären. Wer mag, kann sich diese dann bald im FBI abholen.

Es wird also auch in Zukunft nicht langweilig im Wohnzimmer von Maike und Tobi. Und Raum für neue Ideen gibt es noch genug.

Mehr Infos unter www.ku-ki.org

Kontakt: fbi@ku-ki.org

Dieser Artikel erschien zuerst in der CONTRASTE - Die Monatszeitung für Selbstorganisation (Ausgabe 02/15).

http://vg08.met.vgwort.de/na/2cbbc2457fd94415b9a94c3cda76e64d

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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