Her mit dem schönen Leben!

Aktivismus Ich fordere ein schönes Leben für alle und weiß selbst gar nicht, wie ich ein solches führen soll. Warum es nicht reicht, die Welt scheiße zu finden

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Her mit dem schönen Leben!

Foto: Tim Graham/ AFP/ Getty Images

Dieses Zitat gehört zu meinen Lieblingssprüchen: „Her mit dem schönen Leben!“ Es bringt so viel auf den Punkt, ist eingängig und leicht zu verstehen. Ein schönes Leben – das wollen wir doch alle! Und es steht allen Menschen gleichermaßen zu. Niemand sollte sich um das Überleben, das finanzielle Auskommen oder den sozialen Status sorgen müssen. Wir alle haben ein Recht darauf, in Würde und in Frieden zu leben – und selbst zu entscheiden, wie unser Leben aussehen soll. Doch so einfach und banal diese Forderung auch ist: Was ist denn das schöne Leben?

Als ich vor kurzem nach einer Vorlesung nach Hause fuhr kam mir plötzlich diese Frage in den Sinn. Und ich erschrak. Denn mir wurde klar, dass ich für mich noch gar keine Antwort habe. Und mehr noch: Habe ich überhaupt schon mal danach gesucht? Mir ging es in dieser Woche nicht besonders gut: Ich war unzufrieden, genervt, kränklich und hatte nur wenig Lust auf irgendetwas. Den Grund dafür wusste ich nicht. Aber wer braucht schon einen konkreten Anlass? Schließlich ist die Welt scheiße, da kann mensch auch schon mal schlechte Sinne haben.

Täglich sterben Menschen, sei es in Kriegen oder wegen Hunger und Armut. Täglich geht unsere Umwelt weiter den Bach runter, weil wir es nicht auf die Reihe kriegen, einen verträglichen Lebensstil zu etablieren. Täglich werden Menschen gefoltert, gedemütigt und ausgebeutet. Täglich läuft die kapitalistische Maschinerie weiter auf Hochtouren, obwohl sie nur noch mehr Schaden anrichtet. Wer kann trotz alledem noch freudestrahlend durch die Welt laufen?

Das große Unglück dieser Welt

Aber wenn ich ehrlich bin, ist es zu einfach, meine Verstimmungen auf das große Unglück dieser Welt zu schieben. Natürlich hat es einen Einfluss auf mein Leben. Sonst würde ich zum Beispiel nicht in einer Kommune wohnen, ich würde wahrscheinlich nicht vegan leben, ich würde meine Zeit anders verbringen und ich würde auch diesen Artikel nicht schreiben. Aber auch wenn ich immer wieder schockiert bin von bestimmten Entwicklungen und Ereignissen, muss ich zugeben, dass sich meine Unzufriedenheit wohl zu einem großen Teil nicht aus der globalen Weltlage, sondern aus meinem eigenen Leben speist.

Wenn ich aber anerkenne, dass ich traurig und genervt bin, weil mein eigenes Leben nicht so ist, wie ich es mir wünsche, setzt mich das noch stärker unter Handlungsdruck, als wenn ich deprimiert bin, weil viele Menschen an Hunger sterben. Ja, auch dafür habe ich eine Verantwortung, aber diese ist erst einmal systemimmanent. Ich kann mir dieser Verantwortung bewusst sein und daraus den Schluss ziehen, das System ändern und verbessern oder bekämpfen und zerstören zu wollen. Aber das ist ein Kampf auf lange Sicht, ein Kampf der kleinen Schritte – und er bleibt oft relativ abstrakt. Auch vor Ort kann ich Projekte auf den Weg bringen und Alternativen leben, aber ich behalte dabei das große Ganze im Blick. Mein Veganismus, das Leben in der Kommune, der politische Aktivismus – das alles ist kein Selbstzweck. Es zielt auf eine gesellschaftliche Veränderung ab.

Die „aktivistische Depression“

Diese Veränderung kommt aber leider nicht von heute auf morgen. Wem das nicht von Anfang an klar ist, der wird spätestens nach ein paar Jahren darauf aufmerksam, wenn sich zum ersten Mal die Frage stellt: Was bringt das eigentlich alles? Die Welt ist immer noch scheiße, obwohl ich mich schon seit fünf Jahren für einen Wandel einsetze. Er kommt aber nicht. Und es wird sogar alles noch schlimmer: Neue Konflikte, neue Probleme, neue Kämpfe. Ich sag‘ nur AfD. Da kann mensch schon mal in eine „aktivistische Depression“ verfallen, wie ich es inzwischen ganz gern benenne. So kann das schöne Leben doch nicht aussehen.

Ich tue, ich mache und strenge mich an – und es ändert sich nichts. Aber ist das wirklich der Grund dafür, dass ich niedergeschlagen im Bus sitze und mich sogar darüber ärgere, dass die Sonne scheint? Nein. Aber es ist einfach. Denn gegen die Gesamtwetterlage im Kapitalismus kann ich in diesem Moment nicht mehr tun. Irgendwann komme ich zwangsläufig an meine Grenzen. Selbst wenn ich mein ganzes Leben dem politischen Kampf widmen würde, wäre ich wohl nicht erfolgreicher. (Die Frage ist natürlich, was passieren würde, wenn eine sehr viel größere Zahl an Menschen das tun würde, aber das halte ich im Moment für ziemlich illusorisch.) Tolle Aussichten also. Und Grund genug, abgenervt zu sein. Genau diese Sichtweise hält mich aber davon ab, zu fragen, was ich denn gerade für mich tun könnte, um mein Wohlbefinden wieder herzustellen. In meinem Leben ist es nämlich sehr wohl möglich, etwas wirksam zu verändern.

Was kann ich für mich tun?

Und ich ziele damit zunächst einmal nicht auf individuelle Entscheidungen ab, die sich dann irgendwann in der Gesellschaft niederschlagen sollen, wie zum Beispiel keine tierischen Produkte mehr zu essen, keine neuen Klamotten mehr zu kaufen oder nicht mehr zu fliegen. Auch das sind Veränderungen auf persönlicher Ebene – und auch diese können mein persönliches Wohlbefinden steigern, weil ich mich gut mit dem fühle, was ich tue. Aber ich möchte dieses Mal auf etwas anderes hinaus: Was kann ich für mich tun, damit es mir gut geht? Wie soll mein Leben aussehen, damit es „schön“ ist? Wo tanke ich meine Reserven auf, um für den weiteren Kampf gewappnet zu sein?

Schnell schleicht sich schon wieder das schlechte Gewissen ein: „Meine Güte, es geht dir doch so gut im Vergleich zu anderen Menschen auf der Welt. Wie kannst du dich damit beschäftigen, dein eigenes Wohlbefinden noch zu erhöhen? Du bist so privilegiert! Du solltest lieber darüber nachdenken, wie du noch effektiver politische Arbeit machen kanns!“ Aber ist das so?

Das schöne Leben fängt bei mir an

Es bringt wohl niemanden weiter, wenn ich deprimiert im Bus sitze und die Welt scheiße finde. Natürlich ist sie das, aber das heißt nicht automatisch, dass auch mein Leben scheiße sein muss oder sein sollte. Wenn ich mir ein schönes Leben für alle wünsche, sollte ich dann nicht bei mir damit anfangen? Wie kann ich ein schönes Leben für alle fordern, wenn ich selbst gar nicht weiß, wie mensch ein solches führt? Ich selbst strample gestresst herum, weil ich so viel machen „muss“: Uni, Job, politische Arbeit, Termine und und und… ich habe den Leistungsdruck, den ich so gerne kritisiere, doch selbst verinnerlicht. Immer denke ich, es sei nicht (gut) genug, ich müsste noch mehr tun, ich genüge meinen eigenen Ansprüche oder denen der anderen nicht. Ich darf nicht zu lange studieren, ich muss mehr Geld verdienen, ich will sportlich sein, ich sollte mich bei Veranstaltungen blicken lassen, ich will doch die Welt verändern, … Stop!

So funktioniert das nicht. Das ist nicht das schöne Leben, wie ich es mir vorstelle. Oder? Wie stelle ich es mir eigentlich vor? Inzwischen weiß ich, dass ich mir darüber bisher zu wenig Gedanken gemacht habe. Stattdessen habe ich einfach immer gemacht und getan, was ich für richtig hielt. Aber wer sagt, was richtig ist? Wer sagt, wie lange ich studieren soll? Wer sagt, dass ich jeden Tag Sport machen sollte? Überall werde ich mit Botschaften und Meinungen bombardiert und hab ganz vergessen, zu horchen, was mein Bauch mir sagt. Manchmal weiß ich noch nicht mal mehr, was meine innere Stimme selber sagt und was ihr von außen eingetrichtert wurde. Das herauszufinden braucht Zeit und Ruhe. Es reicht nicht, zwischen zwei Terminen zehn Minuten im Bus zu sitzen und zu grübeln. Es braucht immer wieder Pausen, einen eigenen Rhythmus, Achtsamkeit und Geduld mit sich selbst.

In dieser Woche musste ich mich endlich damit auseinandersetzen, weil mein Körper schlapp gemacht hat. Oder freundlicher formuliert: Er hat mich daran erinnert, dass er Pausen braucht. Dass er nicht immer automatisch funktioniert, weil ich das möchte. Und dass ich mehr auf ihn und mich Acht geben muss, wenn ich ein schönes Leben für mich und für alle haben möchte. Auch wenn ich mich gerade krank fühle, hat es etwas heilsames, was da gerade passiert. Zwar habe ich immer noch keine Antwort auf die Frage, wie dieses Leben aussehen soll, aber immerhin stelle ich mir diese Frage endlich. Nicht nur mir zuliebe.

In diesem Sinne: Her mit dem schönen Leben!

(Zitat von Wladimir Majakowskij, Lyriker der russischen Revolution)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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