L'état et moi

Staatskritik Hierarchien, Desillusionierung und Bürokratisierung: Warum wir uns nicht darauf konzentrieren sollten, die Macht zu übernehmen, um die Welt zu verändern

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Utopie von einem poststaatlichen Zeitalter: "Hurra, diese Welt geht unter", singen K.I.Z. in ihrem gleichnamigen Video
Utopie von einem poststaatlichen Zeitalter: "Hurra, diese Welt geht unter", singen K.I.Z. in ihrem gleichnamigen Video

Foto: Screenshot, Youtube

Ich gebe zu, es ist ein gewagtes Projekt. Es scheint utopisch und naiv, den Staat abschaffen zu wollen. Aber vielleicht ist es genau deshalb der richtige Weg. Vielleicht müssen wir endlich damit anfangen, das Undenkbare zu denken, um tatsächlich etwas zu verändern. Wir sollten aufhören, uns am Bestehenden zu orientieren, um einen Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Die existierenden Strukturen haben schließlich genau die Verhältnisse geschaffen, die wir kritisieren. Wie sinnvoll kann es also sein, diese Strukturen zu nutzen, wenn wir eigentlich etwas ganz anderes wollen?

Nicht umsonst ist John Holloway sozusagen der Namensgeber für meinen Blog. Mit seinem Buch “Kapitalismus aufbrechen” hat er mich dazu inspiriert, den Faden der alltäglichen Revolution aufzunehmen und die unzähligen Rissen im System sichtbar zu machen, die es heute schon gibt. Im Rahmen der eintägigen “Herrschaftskritischen Sommeruniversität” an der Universität Kassel hatte ich das Vergnügen, mal wieder einen Text von ihm zu lesen. Die Frage unseres Workshops lautete: Was ist der Staat und wohin mit ihm? Und Holloway hat dazu eine ziemlich klare Position: Kehrt dem Staat den Rücken!

Die Dinge sind einfacher, als sie aussehen

Auch ohne sich in akademischen Kreisen zu bewegen und regelmäßig wissenschaftliche Abhandlungen zu lesen, erschließen sich Holloways Gedanken seinen Leser*innen schnell. Spricht das gegen ihn? Ich finde nicht. Für mich untermauert es eher seinen Ansatz, jede*n als potenzielle*n Revolutionär*in zu betrachten. Für ihn braucht es offenbar keine unnötig verschachtelten Sätze und Fremdworte. Die Dinge sind einfacher, als sie aussehen.

Gerade diese Art zu schreiben motiviert mich, wenn ich mal wieder das Gefühl habe, alles sei kompliziert und wachse mir über den Kopf. Es ist wie eine Besinnung auf das wirklich Wichtige: Du willst etwas ändern? Dann tu es. Dir sagt jemand, dass sei Blödsinn? Blödsinn. Verlasse die vorgegebenen Denkmuster und traue dich, über sie hinauszugehen. Wer sagt, dass das nicht geht? Niemand. Im Gegenteil: Wir brauchen gerade die neuen und unkonventionellen Ideen, wenn wir in einer herrschaftsfreien Gesellschaft leben wollen.

Kapitalismus adé

Eine notwendige Voraussetzung dafür ist die Überwindung des Kapitalismus. Doch wie kommen wir dahin? Die naheliegende Antwort: Wir übernehmen die Macht im Staat und ändern alles nach unseren Vorstellungen. Schon genügend Menschen sind diesen Weg gegangen, entweder in reformistischer oder in revolutionärer Form. Gescheitert sind sie alle. Für Holloway kann eine wirkliche Veränderung der Verhältnisse deshalb nur jenseits des Staats stattfinden. Sich bei der Revolte auf den Staat zu konzentrieren, hält er vor allem aus zwei Gründen für falsch.

Zum einen ist es ihm zufolge nicht möglich, den Staat vom Kapitalismus zu trennen: “[Er] ist derart in die Totalität kapitalistischer Verhältnisse eingebunden, dass er praktisch unmöglich Maßnahmen einführen kann, die ernsthaft die Rentabilität des Kapitals beschneiden könnten. Das, was ein Staat könnte, ist sehr begrenzt.” (ND 07.05.04) Folglich hat der Staat an sich keine Handlungsautonomie. Dafür ist er eine wichtige und unverzichtbare Instanz zum Schutz des Privateigentums. Selbst, wenn wir es also schaffen, an die Macht zu kommen: Es wird uns nicht weiterhelfen. Die Kontrolle des Staates wird sich früher oder später wieder in Kontrolle durch den Staat verwandeln. Holloway hält es nicht für möglich, ihn gegen das Gesetz, das Eigentum, die Armee oder die Polizei einzusetzen.

Vielfalt nicht einschränken

Überraschenderweise ist das für den Politikwissenschaftler aber nicht das wichtigste Argument. Vielmehr sieht er die Vielfalt und die Pluralität der Revolte in Gefahr, wenn sich die Menschen ihren Kampf darauf beschränken, die Staatsmacht übernehmen zu wollen. Er schreibt: “Ihre Träume und ihre Hoffnungen gehen weit über das unmittelbar Mögliche hinaus.” (ebd.) Holloway hat offensichtlich ein großes Vertrauen in unseren Erfindungsreichtum und unsere Kreativität – das wird in all seinen Texten deutlich. Er ist sich sicher, dass wir in der Lage sind, neue Strukturen aufzubauen, die auf Herrschaft verzichten und ein gleichberechtigtes Miteinander ermöglichen. Es gibt noch keine endgültigen Antworten? Mag sein, dann suchen und finden wir sie eben.

“Es bedeutet, dass der Einsatz der Methoden des Feindes zu unserer eigenen Niederlage führt, und dass es stattdessen von entscheidender Bedeutung ist, unsere eigenen Methoden und Organisationsformen zu entwickeln, die gleichzeitig unsere Idee von Menschenwürde ausdrücken und eine praktische Vorstellung von der Gesellschaft vermitteln, die wir erschaffen wollen.” (ebd.)

Was passiert, wenn sich Bewegungen auf die staatlichen Strukturen einlassen, hat die Linke mehrfach erfahren müssen. Einer Regierung nach der anderen wurde vorgeworfen, die Ideale ihrer Unterstützer*innen verraten zu haben – aktuellstes Beispiel: Syriza. Der Verrat ist so im letzten Jahrhundert zu einer Schlüsselkategorie der Linken geworden. Die entscheidende Frage lautet nicht, wer gerade herrscht, sondern ob es Herrschaft gibt. Das Ziel sollte also sein, Machtverhältnisse aufzulösen.

Hierarchisierung der Kämpfe

Konzentrieren wir uns darauf, die Staatsmacht zu übernehmen, wird Holloway zufolge automatisch eine Hierarchisierung der Kämpfe stattfinden: Es gibt Führer*innen und es gibt die Massen. Es gibt “ernsthafte” Aktivitäten, die der Übernahme der Macht dienen, und “frivole” Aktvitäten, die dies nicht tun. Auf dem Weg zur Macht werden zwangsläufige viele Aktivitäten auf der Strecke bleiben, es kommt zu einer Bürokratisierung und Desillusionierung. Natürlich werden daraus auch Konflikte entstehen zwischen allen, die an der Revolte beteiligt sind. Das ist ein bekanntes Problem: Alle werfen sich gegenseitig vor, die falschen Prioritäten zu setzen und den Veränderungsprozess aufzuhalten.

“Die staatszentrierte Perspektive zu kritisieren, bedeutet nicht, dass die Alternative (also der Versuch, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen) keine Probleme böte. Die Tatsache, dass sie, also die Staatsorientierten, keine Antworten haben, bedeutet nicht, dass wir sie haben. Aber gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass es nicht nur eine Frage der Koexistenz, der Kombination beider Formen ist, sondern dass große Spannungen zwischen den zwei Perspektiven bestehen, die uns in verschiedene Richtungen führen.” (ebd.)

An dieser Stelle bin ich nicht sicher, ob ich Holloway wirklich zustimmen kann. Ich frage mich, ob es nicht doch möglich ist, parallel an verschiedenen Stellen zu arbeiten. Ich für meinen Teil sehe mich nicht in parlamentarischen Strukturen, sondern engagiere mich für den Aufbau selbstorganisierter und autonomer Projekten. Nichts desto trotz kann ich der Idee etwas abgewinnen, dass es Menschen gibt, die gleichzeitig versuchen, den status quo zu ändern, also z.B. Gesetze im Sinne von solidarökonomischen Ansätzen durchzusetzen, die rechtlichen Vorgaben für Projekte zu vereinfachen, die vielfältigen staatlichen Repressionen einzudämmen, die Grenzen zu für Geflüchtete zu öffnen… Ist das tatsächlich alles verlorene Liebesmüh? Oder könnte das die außerparlamentarischen Bewegungen und Kämpfe entlasten?

Parallel arbeiten ohne Vorwürfe

Wenn wir komplett auf die Intervention in staatlichen Strukturen verzichten, würden wir dann vielleicht eher die kritische Masse erreichen, um etwas eigenes aufzubauen? Oder werden wir dann von staatlicher Seite noch stärker angegriffen, sodass wir nur noch mit Abwehrkämpfen beschäftigt sind? Wenn sich Menschen für die (partei)politische Arbeit entscheiden, wie kann der Kontakt zur Bewegung erhalten werden? Oder sollten wir darauf gar nicht so großen Wert legen, um Enttäschungen und Konflikte zu vermeiden? Könnten wir auch parallel arbeiten, ohne uns gegenseitig Vorwürfe zu machen?

Ich finde es schwierig, diese Fragen zu beantworten. Holloways Ansatz spricht mich an, keine Frage. Aber wie realistisch ist es, dass eine kritische Zahl von Menschen dem Staat schon heute den Rücken zukehren werden? Klammen wir damit nicht auch reale Probleme und Konflikte der Menschen aus? Oder muss ich vielleicht einfach noch üben, mir das Unvorstellbare vorzustellen?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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