Sommer, Sonne, Abschiebung

Protest Es gibt so viel zu tun: Allein schon für die Unterstützung von Geflüchteten bräuchten wir alle möglichen Kapazitäten. Dürfen Aktivist*innen überhaupt an Urlaub denken?

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Trügerische Idylle
Trügerische Idylle

Foto: DOMINIQUE FAGET/AFP/Getty Images

Mein letzter Artikel ist nun schon über einen Monat alt. Da stellen sich doch gleich ein paar berechtigte Fragen: Machen Aktivist*innen eigentlich Urlaub? Gibt es auch in politischen Bewegungen ein "Sommerloch"? Und wenn ja – können wir uns das überhaupt leisten? Von meinem Schreibtisch aus schaue ich in den wolkenlosen Himmel, bei knapp 30 Grad. Und leider weiß ich: Der (Sonnen)schein trügt.

Die Welt wird keine bessere, nur weil die Sonne scheint. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Stattdessen erreichen uns täglich neue Hiobs-Botschaften. Mich treibt im Moment vor allem die Debatte um Geflüchtete um: Die Zahl der Menschen, die auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer sterben, steigt jede Woche. Die EU schottet sich weiter ab, nimmt völlig katastrophale Bedinungen in Lagern und unmenschliches Verhalten an den Grenzen in Kauf.

"Gute" und "schlechte" Migranten

In Deutschland ist rechte Hetze wieder auf dem Vormarsch, nicht nur dank Pegida und Co. In erschreckender Regelmäßigkeit brennen Gebäude, die für die Unterbringung von Geflüchteten vorgesehen sind. Politiker*innen springen auf den populistischen Zug auf und teilen die Hilfesuchenden in "gut" und "schlecht" ein. Obwohl es keinerlei Grundlage für solche Argumentationen gibt, hält ein Großteil der Bevölkerung inzwischen alle Menschen aus Osteuropa für "Armutsmigrant*innen", die es sich bei uns gemütlich machen wollen.

Ganz abgesehen davon, dass Armut ein völlig legitimer Grund für Flucht ist und die EU eine erhebliche Mitschuld an der existenziellen Not von Menschen in der Peripherie trägt – wohin steuert unsere Gesellschaft da gerade? Wollen wir diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten wirklich geschehen lassen?

Situation in Kassel

Und ich spreche nicht nur von den weit entfernten Tragödien, die sich an den europäischen Grenzen abspielen. Auch die Geflüchteten in unserer Stadt, in unserem Landkreis kämpfen jeden Tag um ihr Recht auf ein Leben in Würde und um ihre Bewegungsfreiheit. Ob es um das Asylverfahren geht, um die Bedingungen in Lagern und Ernstaufnahmestellen oder um den systematischen Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben – es gibt mehr als genug Kritik- und Ansatzpunkte für politischen Aktivismus. Doch können wir all das überhaupt bewältigen?

Gerade wurde im Landkreis Kassel ein Zeltlager für bis zu 1000 Geflüchtete eingerichtet. Weil die Erstaufnahmestelle in Gießen so "überlastet" ist, werden die Menschen nun im wahrsten Sinne des Wortes ausgelagert. Die Lokalpolitiker*innen rühmen sich für ihre Reaktionsgeschwindigkeit und beschwören inständig, sich so gut es geht um die Menschen vor Ort zu kümmern. Das heißt auch, sie so schnell wie möglich abzuschieben. Passenderweise befindet sich das neue Lager auf einem Flughafen, der bei weitem nicht ausgelastet ist. Seit April wurden hier über 700 Geflüchtete ausgeflogen, Tendenz steigend. Ein Schelm, wer hier irgendein Kalkül unterstellt.

Öffentlichen Protest vermeiden

Im Gegensatz zum Frankfurter Airport hoffen die Verantwortlichen offensichtlich, dass sich an diesem abgelegenen Ort kein Protest gegen die menschenverachtende deutsche Asylpolitik und die damit verbundenen Abschiebungen formieren wird. Ich hoffe inständig, dass sie sich irren. Und dass wir trotz Ferien und Badewetter genug Menschen finden, die öffentlich Stellung beziehen und direkte Aktionen organisieren. Während die Bevölkerung sich rund um den Flughafen bisher recht hilfsbereit und positiv zum Lager äußerte, werden nun die ersten Stimmen laut, die gegen die Geflüchteten hetzen. Was sich daraus entwickeln kann, zeigen die rasant steigenen Zahlen von rechten Angriffen.

Eigentlich kann die Organisierung nicht warten. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, etwas auf die Beine zu stellen. Viele Aktivist*innen sind ausgelastet, sie wissen nicht, woher sie die Zeit für ein weiteres Projekt nehmen sollen. Gleichzeitig stehen sie vor der Herausforderung, ihre unentgeltliche Arbeit so zu gestalten, dass sie trotzdem noch ein Auskommen haben. Und ja, auch ich brauche irgendwann mal einen Feierabend. So schwer es auch ist, diese ganzen Zustände zu ertragen: Irgendwann ist meine Kraft erschöpft.

Politische Auszeiten

Es ist wichtig, dass wir uns Raum und Möglichkeiten schaffen, um aufzutanken. Das mag zynsich klingen angesichts der Strapazen, die Menschen auf einer Flucht auf sich nehmen. Aber ich spreche hier nicht von All-Inklusive-Urlaub und Wellness-Spa – für sowas würde ich kein Geld ausgeben, selbst wenn ich es hätte. Ich meine vielmehr so banale Dinge wie eine Woche Auszeit, ein Sommerfest von Freund*innen, ein Wochenend-Trip in eine andere Stadt oder eine Abwesenheitsnotiv für's Mail-Postfach.

Zugegebenermaßen tue ich mich selbst sehr schwer mit solchen Dingen. Obwohl ich die Leistungsgesellschaft aus tiefstem Herzen ablehne, hat sie mich was Urlaubspläne angeht viel fester im Griff, als mir lieb ist: Habe ich es mir wirklich verdient, ein paar Tage wegzufahren? Müsste ich nicht noch dieses und jenes erledigen? Sollte ich meine Zeit nicht auf sinnvolle und produktive Weise nutzen? Und als wären diese Fragen nicht schon aufreibend genug, kommt eine weitere hinzu: Wie kann ich es mir gut gehen lassen, wenn doch so viel im Argen liegt?

Akku regelmäßig aufladen

Die Antwort ist: Es geht nicht anders. Ich kann nicht pausenlos aktiv und politisch sein, netzwerken, organisieren, diskutieren und handeln. Und ich glaube, die wenigsten sind dazu in der Lage. Früher oder später stoße ich an meine Grenzen und davon hat niemand etwas. Die Welt wird keine bessere, wenn wir uns kaputt protestieren. Im Gegenteil: Dann wird irgendwann keine*r mehr übrig sein, der kämpfen kann. Dann hat "das System" gewonnen. Auch wenn es mir schwer fällt, muss ich versuchen, mein eigenes Akku nicht aus den Augen zu verlieren.

Manch eine*r mag jetzt denken: "Och, die Arme, will Mitleid dafür haben, dass sie sich so aufopfert. Vielleicht will sie auch nur die Absolution für ihren Sommerurlaub. Die hat Probleme...“ Nein, ich brauche weder Mitleid noch eine Absolution. Und ich werde tatsächlich Anfang September für eine Woche wegfahren, ohne mir irgendwo eine Erlaubnis dafür einzuholen. Es geht mir darum, bei allem politischen Aktivismus nicht zu vergessen, dass wir auch nur Menschen sind. Wahrscheinlich können wir uns ein Sommerloch tatsächlich nicht leisten, weder in Kassel noch in Deutschland noch in Europa. Aber genauso wenig können wir es uns leisten, all unsere Kapazitäten dadurch auf's Spiel zu setzen, dass wir keine Pausen einlegen. Der nächste Winter kommt bestimmmt – und da brauchen wir wieder unsere ganze Energie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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