Über eine politische Willkommenskultur

Selbstorganisation Wenn Polit-Gruppen sich vergrößern, kommt es oft zu persönlichen Konflikten. Die lassen sich vermeiden, wenn informelle Hierarchien benannt und vermieden werden

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An Problemen mangelt es ja grundsätzlich selten. Ich muss nur in die Tageszeitung schauen, im Internet surfen oder durch die Fußgängerzone laufen – überall kann ich mal mehr, mal weniger deutlich erkennen, wo eine Veränderung dringend Not tun würde. Zum Glück bin ich nicht die Einzige, der es so geht: Immer mehr Menschen engagieren sich, um ganz konkret eine Welt zu realisieren, so wie sie sich vorstellen - gerecht, solidarisch und ohne Herrschaftsstrukturen. Aber als gäbe es nicht schon genug zu tun, entstehen dabei auch ganz neue Probleme. Probleme, für die wir selbst verantwortlich sind und die uns zeitweise sogar vergessen lassen, worum es eigentlich geht.

Der ein oder andere kann sich vielleicht schon vorstellen, wovon ich spreche: Es sind diese internen Querelen in politischen Gruppen, Gemeinschaften und Initiativen, die oft unglaublich viel Raum einnehmen und zu ernsthaften Konflikten zwischen Menschen führen können, die im Grunde dasselbe wollen. Schon oft habe ich mich gefragt, wie so etwas eigentlich entstehen kann. Reicht es nicht, dass wir uns mit "Gegner*innen von außen" herumschlagen müssen? Sollten wir nicht alle an einem Strang ziehen, um etwas zu erreichen? Geht es nicht manchmal mehr um unsere persönliche Befindlichkeit als um das eigentliche Ziel?

Kein konstruktives Arbeiten möglich

Bei einem größeren Treffen am vergangenen Wochenende konnte ich wieder hautnah miterleben, wie sich ein solcher Prozess verselbständigt und langsam aber sicher für eine Atmosphäre sorgt, in der ein konstruktives Arbeiten nur noch schwer möglich ist. Über 100 Menschen waren zusammengekommen, um sich Gedanken über die Zukunft ihres Projekts zu machen. Es gab sowohl Teilnehmer*innen, die sich schon seit längerer Zeit einbringen als auch viele Interessierte und neue Gesichter, die zum ersten Mal dabei waren.

Es ist immer eine Herausforderung, wenn gewachsene Strukturen auf neue Mitglieder treffen. Auf der einen Seite stehen die erfahrenen Aktivist*innen, die schon viel Arbeit in die Sache gesteckt haben und bereits eine gewisse Routine entwickelt haben. Sie haben dafür gesorgt, dass das Projekt an Fahrt aufgenommen hat, dass die öffentliche Aufmerksamkeit immer größer wird und inzwischen bundesweite Aktivitäten laufen.

Auf der anderen Seite stehen die vielen motivierten Menschen, die sich mit ihren eigenen Ideen und Vorstellungen einbringen möchten. Für sie sind die Abläufe noch nicht so selbstverständlich und werfen vielleicht Fragen auf: Warum muss das jetzt so laufen? Könnten wir das nicht anders machen? Und warum entscheiden die anderen das?

Offene Strukturen reichen nicht

Auch wenn immer wieder betont wird, dass die Strukturen offen und transparent sind, entsteht eine gewisse Barriere, die sich nie völlig vermeiden lässt. Denn immer wenn sich Gruppen vergrößern oder verändern, kommen unterschiedliche Wissens- und Erfahrungsstände zusammen, die sich nicht selten in informellen Hierarchien ausdrücken. Diese stehen natürlich dem Ziel entgegen, möglichst basisdemokratisch und gleichberechtigt zu arbeiten.

Ich denke, es ist völlig normal, dass ich mich mit einem Projekt sehr verbunden fühle, wenn ich an seinem Entstehungsprozess beteiligt war und schon einen großen Teil meiner Energie hineingesteckt habe. Es fällt mir dann immer schwerer, Dinge zu hinterfragen, die sich in dieser Zeit etabliert haben – seien es Entscheidungsprozesse, Kommunikationswege oder Vorstellungen von der praktischen Umsetzung. Das Projekt wird mehr und mehr zu "meinem" Projekt, wenn ich mich verantwortlich fühle und zentrale Aufgaben übernehme.

Gefühl von fehlender Anerkennung

Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Auch wenn ich es oft schwierig finde, mich auf die Sichtweise von neu dazu gestoßenen Aktivist*innen einzulassen, muss ich früher oder später erkennen, dass ich die Weisheit eben nicht mit Löffeln gegessen habe. Nur weil ich etwas für richtig halte, muss es nicht richtig sein. Und nur weil ich etwas auf bestimmte Weise mache, müssen andere es nicht genauso machen.

Nicht selten reagiere ich zuerst mit Ablehnung und Wut, weil meine Sicht der Dinge in Frage gestellt wird. Sicher schwingt dabei auch der Vorwurf von Undankbarkeit mit: "Ich habe mir doch so viel Mühe gegeben und es hat doch geklappt. Warum wollt ihr das jetzt anders machen? Ich möchte, dass ihr wertschätzt und anerkennt, was ich da eigentlich geleistet habe."

Ich finde, diese Gedanken und Gefühle sind nachvollziehbar. Trotzdem gebe ich zu, dass meine Reaktionen nicht immer angemessen sind, wenn jemand Kritik oder Verbesserungsvorschläge äußert. Ich selbst muss daran arbeiten, diese persönliche Ebene nicht allzu wichtig zu nehmen und stattdessen zu sehen, worum es eigentlich geht: die Weiterentwicklung der Idee und des Projekts. Oft tut eine andere Perspektive gut und kann die Gruppe wirklich voranbringen.

Kein Zeichen von Machtbesessenheit

Allerdings sollten auch diejenigen, die neu dazu stoßen, im Hinterkopf behalten, dass es eine Vorgeschichte gibt. Und für diese Vorgeschichte haben die anderen viel investiert: Sie haben sich etwas dabei gedacht, wenn sie bestimmte Entscheidungen getroffen haben. Sie hatten dabei ein Ziel vor Augen – ein Ziel, dass im Idealfall alle Mitglieder der Gruppe verfolgen. Und vieles von dem, was gestartet und umgesetzt wurde, war sicher auch erfolgreich. Sonst säßen wir vielleicht an diesem Tag gar nicht zusammen.

Wenn neue Vorschläge nicht direkt freudestrahlend aufgenommen werden, hat das meist nichts mit Antipathie oder Machtbesessenheit zu tun. Vielleicht geht es mehr um Angst vor Veränderung (die können offenbar auch politische Aktivist*innen haben) und die Sorge, dass die eigene Leistung nicht mehr gewürdigt wird. Darüber hinaus sollte die Erfahrung, die die Gruppe in der Vergangenheit gesammelt hat, auf keinen Fall unterschätzt werden. Sie kann an vielen Stellen mitunter besser einschätzen, was möglich ist und worauf mensch achten muss. Dieser Wissensvorsprung ist wertvoll; er sollte anerkannt und genutzt (nicht ausgenutzt) werden.

Unsachliche Diskussionen

Jede Gruppe tut sich selbst einen großen Gefallen, wenn sie sich dieser Prozesse frühzeitig bewusst wird und versucht, sie klar und deutlich anzusprechen. Schneller als uns lieb ist, kann das Ganze sonst eine eigene Dynamik entwickeln: Weil die einen sich bedroht fühlen und die anderen den Eindruck haben, mit ihrer Meinung nicht willkommen zu sein, entstehen Konflikte, die mit der sachlichen Ebene nicht mehr viel zu tun haben. Stattdessen werden sie tellvertretend wegen individueller Gefühle ausgefochten. Im schlimmsten Fall kann das zu einem Bruch führen, der am aller wenigsten der Gruppe selbst (und ihrem Anliegen) nützt.

Es kann helfen, Lösungswege in der Hinterhand zu haben, bevor die Situation allzu verfahren wird. So kann zum Beispiel im Rahmen interner Workshops das gesammelte Wissen auch den weniger Erfahrenen zur Verfügung gestellt werden. Im Idealfall sollte jedes Gruppenmitglied dan alle Aufgaben übernehmen können, die gerade anstehen und auf die er oder sie Lust hat. Auch Entscheidungen können nur im Konsens getroffen werden, wenn alle über die gleichen Grundkenntnisse verfügen.

Die gleichen Infos für alle

Das setzt natürlich die Bereitschaft der Gruppe voraus, Hilfestellung zu geben, Dinge (immer wieder) zu erklären, transparent zu arbeiten und allen die gleichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Um sachlich diskutieren zu können, kann auch eine Befindlichkeitsrunde helfen, in der die Aktivist*innen ansprechen, wie sie sich gerade in der Gruppe fühlen, was sie sich wünschen und wo sie sich innerhalb der Struktur sehen. Diese Anliegen können auch bei einem separaten Plenum Thema sein, bei dem bewusst keine inhaltlichen Punkte besprochen werden.

Neben der politischen Arbeit kann es durchaus Überwindung kosten, sich auch noch mit solch vermeintlichen "Nebensächlichkeiten" zu beschäftigen. Aber es lohnt sich, denn nur ohne interne Konflikte kann die Gruppe sich langfristig auf ihr eigentliches Ziel konzentrieren. Und gleichzeitig setzt sie dabei schon die Methoden um, die grundlegend sind für gesellschaftliche Veränderungen: Wer eine Gesellschaft ohne Machtstrukturen anstrebt, sollte darauf schon hier und heute, im eigenen politischen Alltag, Wert legen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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