Verteidigung der Autonomie

Systemwechsel Totalitäre Regime bieten einfache Lösung an und wirken deshalb oft anziehend. Dem müssen wir etwas entgegensetzen: Unser Recht auf Privatheit und soziale Beziehungen

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Autonomie braucht ein gewisses Maß an Privatheit. Doch die schwindet.
Autonomie braucht ein gewisses Maß an Privatheit. Doch die schwindet.

Foto: Cate Gillon/Getty Images

Es braucht nicht den großen Knall. Es braucht keine Zäsur, um unser Gesellschaftssystem zu verändern. Ein Systemwechsel kann auch als Übergang vonstatten gehen: Machtverhältnisse und die Regeln des Alltags verändern sich schleichend. Soziale Normen und Verhaltensweisen verschieben sich. Das kann eine Chance sein für mehr Solidarität und den Abbau von Herrschaftsstrukturen. Es kann aber auch eine große Bedrohung sein – sagen Michael Pauen und Harald Welzer. Ihr Buch “Autonomie – Eine Verteidigung” lässt mich besorgt fragen: Sind wir schon längst wieder auf dem Weg in eine totalitäre Gesellschaft?

Autonomie ist in unserer Gesellschaft eigentlich ein hohes Gut. Je mehr wir uns individualisiert haben, umso größer wurden unsere persönlichen Handlungsspielräume. Autonomes Handeln gilt gemeinhin als positiv, während “Mitläufer*innen” etwas schief angeschaut werden: Hast du etwa keine eigene Meinung? Gerade die kapitalistische Vorstellung von der eigenen Inwertsetzung und vom persönlichem Erfolg scheinen darauf abzuzielen. Doch liegt diesem Streben nach Individualität und Einzelkämpfer*innentum nicht auch nur konformes Handeln zugrunde?

Autonomie vs. Heteronomie

Mitunter ist es offenbar schwierig, eine klare Linie zu ziehen: Wo handle ich tatsächlich autonom, das heißt nach meinen eigenen Überzeugungen? Und bin ich bereit, dabei Widerstände und Gefahren in Kauf zu nehmen? Oder richte ich mich nach den Einfllüssen aus meiner Umwelt oder Überzeugungen anderer Menschen? Wo verhalte ich mich heteronom? Wie so oft, kommt es auf die richtige Kombination an: Keine Gesellschaft kann weder funktionieren, wenn alle Menschen völlig autonom noch wenn sie völlig heteronom handeln.

So wie es gewisse geteilte Vorstellungen und Vereinbarungen braucht, muss es immer auch möglich sein, abzuweichen – nicht zuletzt um Fehlentwicklungen der Gruppe zu korrigieren oder Rückkopplungsmechanismen zu entschärfen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich die Gruppe gemeinsam zu einem Verhalten hinreißen lässt, dass keine der einzelnen Personen alleine für möglich gehalten hätte. Besonders in homogenen Gruppen kann das der Fall sein. Es entwickelt sich so genanntes “group think”, das kaum mehr hinterfragt oder kritisiert wird. Im schlimmsten Fall sind wir völlig konform mit unserer Umgebung und verinnerlichen deren Werte und Überzeugungen. Es braucht dann nicht mal mehr physischen und psychischen Zwang, um uns auf Linie zu bringen.

Keine persönliche Eigenschaft

Was braucht es also, um unsere Autonomie zu sichern? Es ist spannend, den Beispielen und Argumenten der beiden Autoren Pauen und Welzer zu folgen, um auf diese Frage eine Antwort zu finden. Anders als vielleicht erwartet, ist Autonomie nämlich keine persönliche Eigenschaft, die mensch nach Belieben einsetzen kann. Es gibt keine autonomen und nicht-autonomen Menschen. Vielmehr hängt unser persönlicher Grad an Autonomie davon ab, in welcher Situation wir uns gerade und im Allgemeinen befinden.

So braucht es, um autonom handeln zu können, auf jeden Fall ein gewisses Maß an Privatheit. Um abzuweichen, muss ich mich auf unterstützende soziale Beziehungen verlassen können. Und diese sozialen Beziehungen wiederum brauchen Vertrauen. Es muss private Räume geben, in denen Informationen ausgetauscht, Strategien ausgehandelt und Pläne geschmiedet werden können, ohne das eine außenstehende Person zwangsläufig etwas davon mitbekommt. Diese abstrakte Beschreibung wird verständlicher im Rückblick auf die verschiedenen Formen von Widerstand im Nationalsozialismus.

In Zeiten von Google, Facebook und NSA

Gleichzeitig wird dann auch schnell deutlich: Menschen, die sich damals abweichend verhalten haben, hätten heute große Schwierigkeiten, unentdeckt zu bleiben. Michael Pauen und Harald Welzer beklagen die große Sorglosigkeit von Politik und Zivilgesellschaft, wenn es um die Macht von großen Internetkonzernen wie Google oder Facebook geht. Und auch die Tendenz, nach terroristischen Anschlägen die Überwachung der Bevölkerung auszuweiten, deutet darauf hin, dass unsere Privatheit immer mehr einem Bedürfnis nach Sicherheit geopfert wird, das nie gestillt werden kann.

Im Gegenteil: Wir laufen Gefahr, wichtige Bereiche unseres Lebens aufzugeben, ohne dass uns dies irgendeinen Schutz oder gar Kontrolle verschafft. Die Kontrolle übernehmen derweil andere. Privatheit geht zunehmend verloren, während Transparenz zu einem absoluten Wert wird. Und wer dem widerspricht, steht gleich unter Verdacht, etwas verheimlichen zu wollen. Beweise spielen keine Rolle mehr.

Mein Alltag bleibt scheinbar unberührt

Wenn ich mir diese Tendenzen vor Augen führe, merke ich, dass ich zu denjenigen Menschen gehöre, die Freiheit und Autonomie als selbstverständlich betrachten. Natürlich ist mir bewusst, dass es in anderen Ländern autoritäre Regime gibt und dass Facebook meine Daten nutzt. Aber fühle ich mich bedroht? Nein. Habe ich das Gefühl, dass mir meine Freiheit genommen wird? Nein. Und genau an dieser Stelle liegt der Hund begraben: Systemische Übergänge vollziehen sich schleichend, womöglich sogar unauffällig, wie Pauen und Welzer schreiben. Der Alltag der meisten Menschen bleibt unverändert. Dabei weisen die “sozialen Verkehrsformen” schon heute totalitäre Züge auf, obwohl wir offiziell noch in einem demokratischen System leben. (Wobei ich in dieses System schon lange kein Vertrauen mehr setze.)

Mit Bezug auf meinen letzten Artikel, der sich unter anderem mit dem Aufstieg der AfD, mit rechtem Gedankengut, Rassismus und Nationalismus beschäftigt hat, fällt schnell auf: Es findet bereits eine Verschiebung statt. Welzer und Pauen schreiben: “Das soziale und politische Problem beginnt dort, wo antisoziale und menschenfeindliche Einstellungen Aktionsfelder in der gesellschaftlichen Praxis finden und begrüßt statt verhindert und sanktioniert werden.” Sind wir nicht genau an diesem Punkt?

Die deutliche Sanktionierung bleibt aus

Natürlich: Es gibt auch unzählige Menschen, die sich solidarisch zeigen und aktiv werden gegen diese Tendenzen, zum Beispiel, wenn es um die Unterstützung von Geflüchteten geht. Aber ist es nicht so, dass sich selbst hochrangige Politiker*innen zu rassistischen Äußerungen hinreißen lassen? Dass auf allen Ebenen gegen Hartz IV-Empfänger*innen gehetzt wird? Dass Menschen diskriminiert und ausgegrenzt werden, die den gängigen Vorstellungen von Leistung, Schönheit und Normalität nicht entsprechen? Und vor allem: Dass solche Einstellungen nicht klar und deutlich als das benannt werden, was sie sind und dementsprechend behandelt werden?

Es wird in Zukunft nicht einfacher werden, autonom zu handeln und sich gegen diese Tendenzen zur Wehr zu setzen. Und trotzdem scheint es gerade jetzt an der Zeit, Räume für autonomes Handeln zu sicher und zu verteidigen. Und das können wir nur selbst tun: “Wenn Sie nicht selbst auf Ihre Autonomie bestehen, wird es niemand für Sie tun”, sagen Pauen und Welzer. Wir können unsere Autonomie weder von einem Parlament einfordern noch können wir sie delegieren. Wir haben die Freiheit, unsere Freiheit gegen Angriffe und Gefährdungen zu verteidigen. Und die sollten wir nutzen.

“Freiheitsspielräume sind unverzichtbar, um Unrecht zu beseitigen, falsche Entwicklungen zu korrigieren, neue Pfade zu begehen und die Prioritäten des staatlichen Handelns zu ändern – nichts anderes haben soziale Bewegungen – die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung, die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung – jeweils erreicht.”

Wenn ich mir anschaue, welche Voraussetzungen wir brauchen, ist die Lage vielleicht nicht ganz so ausweglos. Wir brauchen unterstützende soziale Beziehungen. Wir brauchen Netzwerke, auf die wir uns verlassen können, wenn wir vom Mainstream abweichen. Und wir brauchen eine kritische Masse, die sich auf diesen anderen Weg macht. Je weniger Menschen in der Passivität verharren, je mehr Menschen sich bewegen, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch die Umstehenden bewegen.

Kommunen als soziales Netzwerk

Übertragen auf mein Leben kann ich schon heute auf einige unterstützende Faktoren zurückgreifen: Ich wohne in einer politischen Kommune mit Menschen zusammen, die eine ähnliche Vorstellung vom Zusammenleben haben wie ich. Gemeinsam möchten wir Alternativen ausprobieren und in die Tat umzusetzen, sei es zum Beispiel Entscheidungen im Konsens zu treffen oder solidarisch zu wirtschaften. Gleichzeitig positionieren wir uns in politischen Debatten klar gegen jegliche Formen von Rassismus, Nationalismus, Sexismus und andere Strukturen der Unterdrückung und Diskriminierung. Wir versuchen, Hierarchien auch bei uns so weit wie möglich abzubauen und zu reflektieren, inwiefern die gesellschaftlichen Strukturen auch in uns selbst wirken.

Ich kann auf diese Gemeinschaft vertrauen, wenn ich autonom handeln will. Hier kann ich neue Ideen und auch Verbündete für meine eigenen Pläne finden. Es fällt mir sehr viel leichter, die Leistungsgesellschaft zu hinterfragen, wenn mein Mitbewohner sich ebenfalls mit diesem Thema auseinandersetzt. Gleichzeitig geben mir unsere Gemeinsamkeiten die Kraft, auch außerhalb der Kommune für einen Wandel zu kämpfen. Dort wiederum motivieren wir hoffentlich auch andere Menschen, Dinge in Frage zu stellen und die Entwicklungen in der Gesellschaft kritisch zu begleiten.

Freiheit als Belastung

Und noch eine wichtige Funktion kann ein solches Netzwerk von Menschen erfüllen: Sie kann mir ein Gemeinschaftsgefühl geben und mir die Last der eigenen Freiheit von den Schultern nehmen. Denn wie auch Welzer und Pauen immer wieder betonen: Autonomie und Freiheit sind wichtig und eine große Errungenschaft. Sie können aber auch eine Belastung sein, denn sie bedeuten chronische Orientierungs- und Entscheidungsnotwendigkeit. Sie sind nicht nur Gewinn, sondern auch Zumutung. Und daher bieten Gesellschaften immer auch Räume an, um sich davon zu entlasten, um durch Rituale oder Massenereignisse emotional mit einem Kollektiv zu verschmelzen.

“Es ist die Suspendierung von jener Lebensverantwortung, die die Moderne dem Subjekt auferlegt hat, welche den Totalitarismus so ungeheuer attraktiv macht und die Demokratie so grundsätzlich gefährdet. Das Aushalten von Ambivalenzen und Widersprüchen, die Angst vor sozialem Abstieg, die permanente Konfrontation mit Heterogenität, die dauernde Anforderung, sich immer wieder neu entscheiden zu müssen – alles dies sind Zumutungen der Freiheit, von denen totalitäre Systeme das Individuum entlasten.”

Wenn wir aber autonom handeln können und uns trotzdem aufgehoben fühlen. Wenn wir unsere eigenen Überzeugungen und Werte suchen, finden und leben können, ohne aus unserem sozialen Umfeld ausgestoßen zu werden. Dann können wir auch daran arbeiten, Machtverhältnisse nicht nur schleichend zu verändern, sondern abzubauen. Dann können wir für Werte wie Solidarität und Gleichberechtigung eintreten und die sozialen Normen nach ihnen formen. Dafür braucht es nicht zwangsläufig einen großen Knall.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Regine Beyß

Politische Aktivistin, Journalistin

Regine Beyß

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