Ein israelischer Ulysses auf dem Flaschenfloß

Que sera, sera Ein Träumer will russische Literatur nach Gaza bringen. Weil Träume und Literatur gefährlich sind, wird er sterben.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die moralisch größte Wucht entfaltet ein Werk dann, wenn es die brutalen Ereignisse zeigt wie sie sind, ohne dabei zu moralisieren.

Daher entfaltet das auf der Augsburger Brechtbühne derzeit gezeigte Stück “Ulysses auf dem Flaschenfloß” eine ungeheure moralische Wirkung.

Die Art, wie der Autor Gilad Evron sein Thema “israelische Besatzung” konstruiert, erinnert an den Jahrhundertroman “Die Wohlgesinnten” von Jonathan Littell.

So wie Littell den SS-Offizier Max Aue in aseptischer, rationaler, weitgehend teilnahmsloser Art Zeuge und Täter werden lässt an den furchtbarsten Verbrechen des Naziregimes, lässt Gilad Evron seine Protagonisten auf ihre Weise Anteil nehmen an den Schrecken des Besatzungsregimes.

http://www.transatlantikblog.de/wp-content/uploads/2012/10/ulysses_auf_dem_flaschenfloss_augsburg.jpg

Evrons Werk, um die wesentliche Leistung des Stücks vorwegzunehmen, ist eine vielschichtige, rundweg gelungene Charakterstudie des Menschen, und erst an zweiter Stelle eine Anklage gegen die Besatzung.

Denn die gezeigten Protagonisten auf der Seite des Unrechtsregimes – der Rechtsanwalt des Inhaftierten, die auf Luxus, Status und Ruf bedachte Gattin des Rechtsanwalts, der auf Karriere bedachte Juniorpartner des Anwalts, und wie die Spinne im Netz, das Epizentrum der Macht: der Generalstaatsanwalt (der ebensogut der Ministerpräsident sein könnte) – sie alle sind Archetypen. So oder so ähnlich spielt sich alles menschliche Verhalten ab, wenn es um die Frage geht, wie opportunistisch sich der einzelne an seinen eigenen Vorteilen orientiert im Angesicht von Machtverhältnissen, die alltäglich Unrecht und Leid produziert.

Daher ist die Wirkung dieses Ulysses ganz ähnlich der Wirkung der Wohlgesinnten. Man bekommt einen Spiegel vorgehalten:

Wo würdest Du stehen?

Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein russischer Neueinwanderer in Israel ist Lehrer und lebt leidenschaftlich von und für Literatur. Russische Literatur. Denn im Gegensatz zur französischen – so teilt uns der Lehrer mit – öffnet die russische die Horizonte. Deshalb will er sie unbedingt ins abgeschottete Gaza bringen. Denn dort gibt es kaum Literatur. Und nur seine Bücher könnten den Menschen dort ein neues Gefühl bringen für offene Horizonte.

Also baut der Idealist ein Boot aus leeren Plastikflaschen. Segelt nach Gaza. Wird von der israelischen Küstenwache abgefangen. Landet im Gefängnis. Wo er vom Mensch zum Exempel wird. Denn natürlich weiß die Obrigkeit um die Gefahr von Büchern, kennt das Risiko, das freie Gedanken mit sich bringen.

Die Obrigkeit wird vertreten vom Generalstaatsanwalt. Der hat eigentlich ganz andere Sorgen. Er muss sich um die Situation in Gaza kümmern. Muss dafür sorgen, dass durch die wenigen Grenzübergänge hindurch eine Versorgung von Gaza ermöglicht wird, die juristisch unanfechtbar ist. Die Not dort muss rechtens sein.

Dem Anwalt gegenüber, der den inhaftierten Literaturschwärmer vertritt, und der zugleich sein Rechtsberater ist, skizziert der Staatsanwalt die Lage in Gaza. 1,6 Millionen Menschen. Wenig Alte, viele Junge. Ungeheure Geburtenrate. Anhand einer quadratmetergroßen Legostein-Platte baut er die Bevölkerungstürme auf, demonstriert anschaulich die Enge. Wie viele Kalorien wären wohl das Minimum? Es ginge nicht ums reine Überleben, räsoniert er.

Ihn würde besonders interessieren, wie sich diese Mangelernährung auswirkt. Würde die Sterblichkeit steigen? Würden die Menschen weniger wachsen? Ach, was mache das schon, seine Großmutter sei zuletzt auch geschrumpft, obwohl sie zeitlebens Mengen an Käse mit viel Calcium gegessen habe. Würde sich die Gehirnleistung verändern?

Eine grauenvolle Vorstellung sei das, wie sich die Menschen dort vermehren würden, und irgendwann, irgendwann würden sie rüberkommen. Ja, sagt der beinahe greise Machtmensch, er würde dann auf sie schiessen, wahrscheinlich würden auch sein Sohn und sein Enkel auf sie schiessen. Aber es wären wohl zu viele. Grauenhaft!

Das Stück kreist um den Staatsanwalt. Er nimmt nicht die umfangreichste Rolle ein, aber die zentrale. Um ihn herum gruppiert sich der Rest, abhängig von seiner Macht, seiner Gnade.

Die Macht gibt, die Macht nimmt

Die anderen sind Statisten. Nicht als Schauspieler auf der Brechtbühne, denn jeder füllt die ihm zugedachte Rolle mit prallem Leben: Markus Calvin als Rechtsanwalt, Judith Bohle als Luxusgattin, Tjark Bernau als Literat und Alexander Darkow als Juniorpartner (der vom Typus her an den Spekulanten “Gecko” in Wall Street angelehnt ist). Gerade weil die Figuren so lebensecht sind, weil sie keine Karikaturen sind, und in ihrem “eigenen” Leben so viel sein wollen, so viel “ich” sein wollen, bemerken sie nicht oder verdrängen höchst effektiv, wie sehr sie allesamt abhängig sind von der über ihnen thronenden Macht.

Die Macht schließlich lässt sich herab, mit dem Literaten zu diskutieren. Das erinnert an den Dialog zwischen der Figur des Lagerarztes Mengele und dem in Auschwitz inhaftierten Priester in Hochhuths Stellvertreter: Der gebildete Zyniker, der kraft Position über allem steht, erweist dem Nichts die Gnade, sich zu erläutern.

Gnadenhalber wird der Literat aus der Haft entlassen, nicht ohne versichern zu müssen, keinesfalls erneut nach Gaza zu wollen. Dann würde man ihn töten.

Der Träumer segelt in einem selbstgebauten Fluggerät Richtung Gaza und wird getötet.

Die anderen, der Rechtsanwalt, seine Gattin und der Juniorpartner feiern derweil die florierende Partnerschaft. Der Junior wirft kurz ein, dass dieser eine verrückte Mandant ums Leben gekommen sei. Die Gattin witzelt und ergeht sich mit dem Karrieristen in Träumen, was man alles aus dieser tollen Strandlage in Gaza machen könnte. Der Juniorpartner meint, es müsste sich halt einer ermannen, dort aufzuräumen.

Der Rechtanwalt, der lange Stunden mit seinem Mandanten verbracht hat, ohne ihn wirklich zu verstehen – wie könne man nur so uneinsichtig, so irrational, so nutzlos verträumt sein, wirft er ihm ein ums andere mal vor – hält bei der Todesnachricht inne, verliert sein Lächeln. Blickt in die Ferne. Versteht nicht mehr alles, wo er doch bislang alles verstand. Und fängt an ein Lied zu summen: Que sera, sera. Whatever will be, will be.

Vorhang.

Großes Menschentheater.

PS.: Gratulation an Bühne, Truppe und Leiter Markus Trabusch. Leider mit zuwenig Applaus bedacht.

Die Kritik zum Teil I des Theater-Doppel-Abends finden Sie hier.

Photo: Dem Abendprogramm entnommen ((c) Theater Augsburg).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

schlesinger

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt" Jorge Louis Borges

schlesinger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden