Jerusalem: Vom Tanz auf dem Vulkan

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The quiet is deceptive. The ice is thin, and there is no way of knowing when or where it will break.

Die Ruhe täuscht. Das Eis ist dünn, und es gibt keine Möglichkeit zu wissen, wann und wo es brechen wird.

Ari Shavit, heute in der Haaretz

Nachdem mich das Taxi am Damaskustor absetzt, bleibe ich auf halber Höhe der Stufen stehen, die zum Tor hinunter führen. Ich will die Atmosphäre aufnehmen. Das Säulentor, wie es bei den Arabern heißt, ist das vielleicht schönste Altstadttor, aber sicher das am meisten belebte.

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Mit Erleichterung stelle ich fest dass die massive Militärpräsenz von damals - damals, das war das erste Jahr der Intifada - völlig fehlt. Nur zwei Soldaten stehen etwas abseits und beobachten das Treiben mit halber Aufmerksamkeit.

Die Esel fehlen. Früher standen hier einige Eselskarren, die mit Gemüse beladen waren. Ein bisschen vermisse ich sie. Meine vorherige Befürchtung, das Tor könnte heute unscheinbar wirken, weil man in der Erinnerung dazu neigt, Dinge größer und bedeutsamer zu machen, trifft nicht ein. Mächtig war es noch nie. So steht es auch heute in großer Schönheit vor einem.

Ich gehe weiter zum Durchgang. In der Menge, die unablässig herausströmt, taucht ein Mann mit einem großen Handwagen im Schlepptau auf. Der Wagen ist zwei Lagen hoch mit Gasflaschen gefüllt. Bevor ich nachdenken kann, machen meine Beine Halt. Ich fixiere den Wagen, den Mann. Blicke nach links zu den Soldaten. Die sehen den Wagen, schauen nun aufmerksamer, verlieren aber das Interesse nach wenigen Sekunden. Das ist die Entwarung. Idiotisch, denke ich mir danach. Es sind nur Araber hier. Und keine Soldaten. Also keine Ziele. So rational funktioniert der eigene Alarmapparat aber nicht. Erstaunlich, wie sich die Eindrücke von damals eingeprägt haben.

Das Österreichische Hospiz, das im Internet bescheiden wirkt, ist in Wirklichkeit ein herrschaftliches Anwesen. Die Zimmer sind schlicht, aber geräumig und sauber. Teppichgedämpfte breite Flure mit fünf Meter hohen stuckverzierten Decken, Gemälden und Gobelins an den Wänden, schweren intarsienverzierten Sessel im Eingangsbereich, mächtige Leuchter. Es hat etwas vom großbürgerlichen maroden Charme alter Wiener Häuser. Das Publikum ist sehr gemischt, wobei die Besucher überwiegen dürften, die vor allem die christlichen Stätten besuchen wollen. Die Zimmerpreise sind für hiesige Verhältnisse sehr moderat.* Ein sehr schöner Garten lädt zum mittäglichen Kaffee oder abendlichen Glas Wein ein. Wer noch keine Bekanntschaft mit israelischen Weinen gemacht hat, sollte das nachholen. Israel hat in den letzten Jahren - wenigstens bei den Roten - mühelos zur Weltspitze aufgeschlossen. Hier im Haus gibt es Weine von Yarden: schwere, vollmundige, samtige Tropfen.

Die schönste Form des allahu-akhbar الله أَكْبَر

Kaum auf der Dachterrasse, beginnt die muslimische Gebetsstunde. Der erste Gebetsruf (Adhan), der stets mit Allahu-akhbar (Gott ist groß) beginnt, erschallt aus Richtung Felsendom. Dann stimmt der nächste ein, und bald klingt es dutzendfach über die ganze Altstadt. Es ist schlicht faszinierend. Keine fünfzig Meter gegenüber dem Hospiz steht ein Moscheeturm, von dem her der Klang naturgemäß am lautesten ist. Der Muezzin hat eine sehr schöne Stimme, und es ist gerade auch aus musikalischen Gesichtspunkten ein angenehmes Erlebnis. Bei uns im Westen ist der Ruf allahuh-akhbar leider einseitig besetzt durch die Schlachtrufe irgendwelcher Gotteskrieger.

In Nachbarschaft zu Ariel Scharon

Von der Terrasse des im muslimischen Viertel gelegenen Hospiz aus hat man einen kaum zu übertreffenden Ausblick auf die Altstadt. Man ist auf einer Höhe mit dem Felsendom und der Al-Akhsar-Moschee. Wendet man den Blick nach rechts, schaut man auf das Flachdach des Hauses von Ariel Scharon, dem früheren Ministerpräsidenten. Natürlich ist es beflaggt, bewacht und mit Überwachungskameras ausgestattet. Von Scharon hört man nichts mehr. Noch immer liegt er im Koma.

Ebenso wie die schiere Präsenz seines Hauses hier im muslimischen Viertel eine Provokation ist, war es auch sein "Besuch" auf dem Tempelberg in Begleitung einer Hundertschaft Polizisten. Das war damals, im Jahr 2000, und war der Auslöser der Zweiten Intifada.

Das Stadtfest, das ein Besatzungsfest ist

Neben mir auf der Dachterrasse steht ein Berliner mittleren Alters, mit dem ich ins Gespräch komme über die Lage hier. Er ist, wie er sagt, nur als Tourist hier, aber das eine oder andere, das er unvorbereitet beobachtet hat, gebe ihm zu denken. Was ihm zu denken gibt, gebe ich hier wieder: Eine Woche zuvor wurde der "Jerusalem-Tag" gefeiert. Oh, mit einer gewöhnlichen Jubiläumsfeier einer Stadt hatte das nur wenig gemeinsam. Hier im arabischen Viertel wurde eine Ausgangssperre verhängt.

Schaut man hier vom Dach des Hospiz in die Gasse, blickt man auf ein gegenüber liegendes arabisches Geschäft.http://farm5.static.flickr.com/4012/4644977059_009c3c5574_m.jpg

Der Berliner hat alles stundenlang mitverfolgt: Der Ladenbesitzer musste um die Mittagszeit schliessen, die Auslagen auf der kleinen Terrasse räumen und die hier üblichen Metalltüren verriegeln. Die Bewohner durften das Haus nicht verlassen. Im Laufe des Nachmittags haben sich aus mehreren Richtungen Prozessionen von Orthodoxen in die Altstadt ergossen. Auch in die muslimische. Eine große Gruppe Orthodoxer hat die Terrasse kurzerhand in Besitz genommen, die dort befindlichen Auslagengestelle beiseite geräumt, ihre eigenen mitgebrachten Tische und Klappstühle aufgestellt, jüdische Lieder angestimmt, getanzt, sich und anderen eine Art Messwein ausgeschenkt und bei all dem einen ungeheuren Aufruhr verusacht. Von links und rechts sind immer wieder andere Gruppen vorbei gekommen, haben vor Ort ihr Jerusalem mitgefeiert. Beschützt von vielen Soldaten und Polizisten.

Dünnes Eis

Ari Shavit hat zweifellos recht. Das Eis hier ist dünn, und die Ruhe trügerisch. Aus Tel Aviv betrachtet ist das alles weit entfernt, in mehrfacher Hinsicht.

Das palästinensische Viertel der Jerusalemer Altstadt nebenbei unter Quarantäne zu stellen, und absehbare Entgleisungen billigend in Kauf zu nehmen, sind Provokationen von Staats wegen.

Scharon hatte seinen damaligen Felsendom-Besuch kalt kalkuliert, da er sich im Wahlkampf als starker Mann präsentieren wollte. Seine zynische Kalkulation ging auf.

Die Leistungsbilanz der heutigen Regierung Netanjahu-Liebermann ist bescheiden. Was immer funktioniert, ist die Krise mit den Arabern am Köcheln zu halten. Immerhin hat Bibi damit seine Wahl gewonnen: strong against Hamas. Ach, was wäre es für eine Wohltat für Netanjahu, würden die Araber hier wieder anfangen Steine zu werfen, weil die Orthodoxen auf ihren Terrassen tanzen.

Für dieses mal haben sie es sich versagt. Früher oder später wird die zynische Rechnung wieder aufgehen.

Shalom, Salam

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PS.1: Der Bericht über meinen Aufenthalt in den besetzten Gebieten - eine Odysse und der mit Abstand anstrengendste, bedrückendste Tag - wird nur in der Printausgabe erscheinen (zweite Juniausgabe).

PS.2: morgen: Am "Sicherheitszaun"

PS.3: Gerade jetzt erschallen wieder die Gebetsrufe. Ich könnte mich daran gewöhnen. Es hat etwas gleichzeitig Majestätisches und Beruhigendes.

PS.4: Dass ich gestern von einem arabischen Händler nach meiner Rückkehr aus den Gebieten - erschöpft wie ich war - nach Strich und Faden betrogen wurde, ändert nichts an dem obigen Bericht. Daran muss man sich gewöhnen. Amos Oz - schon wieder Oz, lest ihn! - hat auch hierin recht. Es geht nie, nie, nie darum, dass die Palästinenser gute Menschen sind und die Israelis böse. Blödsinn. Es geht ausschließlich darum, dass sie ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Daran ändern die Müllberge, die ich in Hebron angetroffen habe ebensowenig wie.... aber das kommt in der Juniausgabe.

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* Im Internet nachzulesen.

Photo: FREITAG / Schlesinger

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Geschrieben von

schlesinger

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt" Jorge Louis Borges

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