Verspielt Israel seine Zukunft?

Selbstzerstörung Israel hat jedes Recht auf Selbstverteidigung. Doch die Lektionen, die es seinen Feinden erteilen will, werden immer nutzloser.

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Tom Friedman, Pulitzer-Preisträger, der in den Achtzigern mit “From Beirut to Jerusalem” ein respektables Buch geschrieben hat, hat seitdem weniger Treffliches über den Nahostkonflikt verfasst.

Anläßlich des Gazakriegs von 2008/09 (Operation gegossenes Blei / Cast Lead) legte er Israel nahe, die richtige Lehre aus ihrem Libanonkrieg von 2006 zu ziehen.

Damals habe Israel seinem Feind, der Hisbollah, einen “großen Blutzoll” und von der libanesischen Zivilbevölkerung “große Schmerzen” abverlangt. Das sei der Hisbollah eine Lehre gewesen und würde die Bevölkerung davon abgehalten, sich allzu sehr mit der Miliz einzulassen. Dies sei die richtige Taktik gewesen: Israel habe die Hisbollah richtig “erzogen”, und nicht versucht sie “auszulöschen”.*

An dieser knappen Beschreibung Friedmans ist im Grunde alles falsch.

Israel hat 2006 den halben Libanon zusammenbombardiert und dabei Tausende von zivilen Einrichtungen zerstört, die mit der Hisbollah nichts oder nur am Rande zu tun haben: Straßen, Brücken, Flughafen, Ölhäfen, Elektrizitätswerke. Schäden in einer Größenordnung von 3,5 Milliarden US Dollar. Den “großen Blutzoll” hatte man der Zivilbevölkerung abverlangt. 1200 Tote und 4200 Verletzte. Die Hisbollah hatte angesichts der massiven israelischen Bombardements mit Kampfbombern und Artillerie und dem Einsatz von Panzerbrigaden mit geschätzten 400-500 Toten glimpfliche Verluste, brachte aber ihrerseits der höchstgerüsteten Armee des Nahen und Mittleren Ostens unerwartet viel Verluste an Mensch und Material bei. Die schiitische Miliz Hisbollah hat einen unverändert soliden Stand unter der inzwischen mehrheitlich schiitischen Bevölkerung des Libanon.

Israel hat die Hisbollah richtig erzogen? Das darf man als Wunschdenken ansehen.

Und jetzt, im Juli 2014, mit der Operation “Verteidigungslinie” gegen die Hamas in Gaza? Glückt die Erziehung der Hamas so, wie sich Friedman das damals vorstellte und wie sich Israel das heute vorstellt?

Nein.

Israel macht nur dasselbe, was es in 2006 im Libanon und 2008/09 in Gaza getan hat.

[ Update zum Gaza-Krieg 2023: Heute geschieht dasselbe wieder.]

Dabei ist das alles ein alter Hut.

Der frühere israelische Ministerpräsident Menachem Begin – der verantwortlich war für den furchtbaren Libanonkrieg von 1982 – hatte eine Studie in Auftrag gegeben, wie sich Israel in militärischen Konflikten gegenüber Zivilbevölkerungen verhalten hat. Diese Studie lag dem legendären früheren Außenminister Abba Eban vor, der sie so kommentierte: Man gewinnt ein Bild, wonach “Israel der Zivilbevölkerung vorsätzlich jedes mögliche Maß an Tod und Leid auferlegt, und das in einer Haltung, die an gewisse Regimes erinnert, deren Namen sich weder Herr Begin noch ich auszusprechen trauen”.**

Israel verspielt seine Zukunft

Und merkt es nicht.

Die Bevölkerung Israels driftet weiter und weiter nach rechts. Sie will die “die Araber” letztlich loshaben, am besten physisch. Um endlich das ganze Königreich David wiederherzustellen.

Selbst wenn das irgendwie gelänge, das eigentliche Problem ist damit noch lange nicht gelöst: Die über Jahrzehnte schleichende Verwandlung Israels von einem säkular-liberalen über einen säkular-liberal-chauvinistischen in einen konservativ-orthodox-militaristischen Staat.

Dieses in Aussicht stehende Zerrbild eines Israel wollte niemand im Gründungsjahr 1948.

Ob ein nennenswerter Teil der jüdischen Diaspora so ein Israel will, darf man bezweifeln.

Ob ein nennenswerter Teil der israelfreundlichen amerikanischen Christen so ein Israel will, darf man bezweifeln.

Ob ein derartiges Israel mangels dieser wichtigen Unterstützung auf Dauer die Kraft besitzen wird sich zu behaupten, muß man bezweifeln.

Wenn es soweit kommt wird es mit dem Schwert untergehen, und der berühmte Satz Moshe Dayans, in Israel müsse man immer mit dem Schwert leben, würde eine schreckliche Wendung nehmen.

Noch ist es nicht soweit. Es muss nicht so kommen. Es soll nicht so kommen.

Man hofft auf ein Wunder. Dass sich neue, frische Kräfte finden, die willens und in der Lage sind, diesen katastrophalen Kurs zu ändern.

Dann wäre nicht alles verloren. Mehr noch: Die Zukunft würde gewonnen, endlich ergriffen.

Die Geschichte zeigt, dass auch nach furchtbarsten Zeiten zwei bis drei Generationen genügen, um so etwas wie Normalität einkehren zu lassen. Der immer wieder aufs Neue wirksame Wille zum Leben gilt für alle, auch für Israelis und Palästinenser. Sonst hätten die Juden nach dem Holocaust nicht die Kraft gehabt, ein Land aufzubauen, das Land Israel, das doch zweiffellos großartige Eigenschaften hat.

Selbst die heute in Gaza schwer Gezeichneten, die heute im Westjordanland Bedrückten würden morgen das Leid vergangener Tage und Jahre vergessen wollen, wenn man ihnen endlich ein Leben in Würde ermöglichte, ein Leben, wie es sich Juden wünschten, als sie nach Palästina kamen.

* I have only one question about Israel’s military operation in Gaza: What is the goal? Is it the education of Hamas or the eradication of Hamas? I hope that it’s the education of Hamas. [...] In Gaza, I still can’t tell if Israel is trying to eradicate Hamas or trying to “educate” Hamas, by inflicting a heavy death toll on Hamas militants and heavy pain on the Gaza population.

** Übers. aus “Gaza in Crisis”, Chomsky / Pappe, Chapter “Exterminate the brutes”, S. 82f.

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Geschrieben von

schlesinger

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt" Jorge Louis Borges

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