Absicht und Wirkung stimmten noch nie zwangsläufig überein. Das formulierte schon Goethe mit seiner faustischen Einsicht "Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft."
Westerwelle, dieser "etwas leichtfertige Mensch" (Helmut Schmidt) sieht sich allerdings nicht als Mephistopheles, der Böses will und Gutes schafft.
Im Gegenteil: Er meint Gutes zu wollen und mit dieser Absicht auch Gutes zu bewirken. Was könnte es Gerechteres geben als "Leistungsgerechtigkeit"? Und hat er nicht recht mit seiner rhetorischen Peitsche, dass der linksradikal in der Birne sein müsse, der Leistungsgerechtigkeit für rechtsradikal hält? In all dem wähnt Westerwelle die "Mehrheit der deutschen Bevölkerung" auf seiner Seite.
Doch auf die Darlegungen Westerwelles, wie er das zu seiner "spätrömischen Dekadenz" gesagte "in Wirklichkeit" meine, auf was es ihm "eigentlich" ankomme, kommt es nun nicht mehr an.
Nicht "linksradikal in der Birne" sind die, die dem selbsternannten Freund der klaren Aussprache Westerwelle nicht folgen mögen in seinem hysterischen Populismus, sondern aufmerksame Beboachter. Westerwelle hat die Katze aus dem Sack gelassen. Allzu klar und allzu deutlich war das ganze Auftreten des - horrribile dictu - Vizekanzlers. Seine Gesinnung liegt spätestens jetzt offen zutage.
Wie gut oder schlecht Westerwelles Argumente in der losgetretenen Sozialstaatsdebatte sind, betrifft nur die aktuelle Diskussion.
Schon recht kurzfristig könnte die Wirkung der Debatte die sein, dass man sich sowohl in der Bevölkerung, als auch in der Politik in breiter Masse abwendet von einem populistischen Phänomen, das man europaweit in vielen Schattierungen kennen gelernt hat.
Deutschland bietet nicht viel Nährboden für diese Art von Politik. Denn wir waren die Verführten, wir waren die Bösen. Das mag man nicht mehr wiederholen. Rattenfängerei hat hierzulande enge Grenzen. Auch wenn man das in der Hitze einer öffentlichen Debatte schnell übersehen kann. Der zwischenzeitliche Miniaturerfolg wie die von Westerwelle mit größter Genugtuung festgestellen 2 Prozent Umfragezugewinn für die Liberalen stellt sich schon jetzt als Phyrrus-Sieg heraus. Die FDP ist im Sinkflug und auf 7 Prozent eingebrochen. Das ist eine Halbierung des Ergebnisses aus der letzten Bundestagswahl.
Das Gute an Westerwelles Dekadenz
Das Gute, das Westerwelle bewirkt, auch wenn er genau das keinswegs beabsichtigt hat, ist eine offenere und weniger verschämte Zurkenntnisnahme der Situation der vielen schlecht Gestellten in Deutschland.
Hartz IV, man muss es klar sagen, war bislang ein Tabuthema. Aber nun wird landauf und landab die soziale Kluft unverhüllt dargestellt und angeprangert.
Man rechnet genauer nach, wie weit denn ein Hartz-Regelsatz ausreicht und welche Unzulänglichkeiten insbesondere für Kinder bestehen. Auf all das haben auch schon andere hingewiesen - seit Jahren etwa der frühere CDU-Generalsekretär und heutiges ATTAC-Mitglied Heiner Geißler.
Nur die große Bühne für dieses Thema fehlte. Die hat nun just Westerwelle bereitet. Und dafür könnte man ihm bald dankbar sein. Selbst ein Thilo Sarrazin könnte insofern als jemand angesehen werden, der unterm Strich Gutes bewirkt: Indem er sich als reicher asozialer Außenseiter outet, der aber dem sozialen Thema wieder zu mehr Aufmerksamkeit verhilft.
Ganz anders verhält es sich mit dem Guten oder Schlechten, das der FDP durch Westerwelle widerfährt.
Was erkannt wurde, und was der FDP zum schweren Problem werden kann, ist:
Westerwelle macht den Haider, gibt den Möllemann
Westerwelle könnte in seinem Tun als "sozialpolitische Abrissbirne"* für die FDP, die so viele große, seriöse Politiker in ihren Reihen hatte und hat - man denke nur an Theodor Heuss, Thomas Dehler, Gerhard Baum oder Hans-Dietrich Genscher - zur Zerreissprobe werden.
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/thumb/0/09/Nachkriegsjahre_plakatFDPSchlussMitEntnazifizierung.jpg/180px-Nachkriegsjahre_plakatFDPSchlussMitEntnazifizierung.jpgSchon zweimal in ihrer Nachkriegsgeschichte stand die Partei in einer ernsten Krise. Die erste kam schon bald nach dem Krieg. Die FDP bot sich wenngleich nicht offiziell, so doch faktisch als Sammelbecken für Alt-Nazis an.
Früh forderte man einen "Schlusstrich" unter die Vergangenheit. Das machte sich bezahlt. In den ersten Wahlen zum Bundestag erreichte die Partei knapp zwölf Prozent. Im Bundestag stimmte sie 1950 gegen das Entnazifizierungsverfahren. Auf ihrem Parteitag von 1952 votierte sie für die Freilassung aller "sogenannten Kriegsverbrecher".
Die Toleranz gegenüber dem rechten Spektrum fand erst mit der "Naumann-Affäre" ein Ende. Der ehemalige Staatssekretär im Reichspropagandaministerium und zeitweilige Referent von Joseph Goebbels Werner Naumann versuchte mit dem nach ihm benannten "Naumann-Kreis", in dem zahlreiche hochrangige Nazi-Schergen mitwirkten, die FDP in seinem Sinne zu unterwandern. Der Kreis wurde aus der FDP ausgeschlossen, was der Partei in der nächsten Wahl einige Stimmen kosten sollte.
Doch spätestens in der Affäre Möllemann trat der latente Rechtspopulismus erneut unverhohlen zutage. Der frühere Landesvorsitzende der FDP in Nordrhein-Westfalen Jürgen Möllemann gab den Freund von offenen Worten und geißelte die Palästinenser-Politik des damaligen israelischen Premierministers Ariel Scharon. In Flublättern, die an alle Haushalte in NRW gingen, prangerte Möllemann Scharon und den damaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, an, sie würden den Antisemitismus in Deutschland befördern.
Mit diesem perfiden Vorwurf wurde schnell klar, dass es Möllemann eben nicht nur auf Kritik an Israel ankam, sondern auf die Aufmerksamkeit eines rechten Publikums. Denn (politische) Kritik an Israel hat zunächst keine Verbindung zu Antisemitismus. Dass Möllemann diese Verbindung dennoch und man darf annehmen ganz bewußt herstellte, machte klar, dass er den Applaus der mehr oder weniger offen antisemitischen Bevölkerungsteile haben wollte.
Der damalige Parteivorsitzende Westerwelle war lange außerstande, ein Machtwort zu sprechen. Insofern gibt es durchaus strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Vorgehen von Möllemann damals und dem Auftreten von Westerwelle heute. Beide beteuern, nur "Klartext" reden zu wollen, aber können doch nur gegenüber unkritischen Zeitgenossen verbergen, dass sie äußerst aggressive Polemik betreiben, die erst im Nachgang verbal geschönt werden soll.
Möllemann hat sich damals gewaltig geirrt. Westerwelle irrt sich heute gewaltig. Und schadet seiner Partei massiv.
http://www.transatlantikblog.de/wp-content/uploads/2010/03/westerwelle_moellemann.jpg
Stellt sich die Frage, ob die FDP heute in der Lage ist, dieses Problem eleganter zu lösen als die damaligen Krisen.
Man wünscht ihr endlich einen Schlusstrich ziehen zu können unter diese Anflüge von Rechtspopulismus.
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* Der Nockherberg-Redner Michael Lerchenberg in seiner gestrigen Münchner Fastenpredigt als "Bruder Barnabas"
Bild: SPIEGEL-Titel von 2003
Plakat: Wikipedia CC Lizenz
Kommentare 11
FDP-Chef Guido Westerwelle hat sehr wenig mit Goethes Mephistopheles zu tun, der stets das Böse will - und doch das Gute schafft, lieber Herr Schlesinger, aber sehr viel mit dem "Zauberlehrling", der Geister rief und ihrer nicht mehr Herr werden konnte.
Die Un-Geister haben inzwischen ein Eigenleben entwickelt, sehr zum Schaden der noch Aufrechten in der FDP - wie etwa Frau Leuthäuser-Schnarrenberger oder Gerhart Baum, die man, für Bürgerfreiheiten eintretend, noch vor dem Bundesverfassungsgericht sieht.
Demagoge Westerwelle hat hoch gepokert - und verloren. Er hat sich einfach verspekuliert, den Hetze zieht nicht in diesem Land. Möllemann musste das erfahren - und jetzt eben auch Guido Westerwelle. Die Büchse der Pandora ist nun offen und die Früchte von Hass und Hetze wirken weiter, gerade in den Reihen der Betroffenen, der Stigmatisierten, der Ausgegrenzten.
Was ist ein Hartz IV-Bezieher eigentlich? Oft nur ein ganz gewöhnlicher Staatsbürger, der 20, 30 Jahre gut funktionierte, der Steuern zahlte, sparte, ein Häuschen baute ... und dann, unverschuldet in Not geraten, alles aufbrauchen musste, weil das Hartz IV-Vertragswerk noch unzureichend war und es so vorsah.
Wenn die Lage nicht so ernst wäre, dann könnte man den Satirikern und Komikern im Fernsehen folgen, die alles urkomisch-prägnant auf den Punkt bringen. Nur ist der innere Friede in Gefahr, wenn rechtspopulistische Demagogen weiter agieren, hetzen und spalten dürfen. Wenn solche Akteure unter dem Banner einer Partei der "Freiheit" agieren - wie gerade in Holland - dann wird die Freiheit selbst pervertiert und ad absurdum geführt. Die FDP wird ihr Wahl-Debakel noch erleben. Die Aufrechten in der Partei haben das sicher nicht verdient.
Carl Gibson
Schlesinger, Du schreibst: „Im Gegenteil: Er [Westerwelle] meint Gutes zu wollen und mit dieser Absicht auch Gutes zu bewirken. Was könnte es Gerechteres geben als "Leistungsgerechtigkeit"?
Zu meinem besseren Verständnis: Ist der zweite Satz ein Westerwelle-Zitat, oder gibst Du Deinen eigenen Standpunkt wieder?
Dem Begriff Leistungsgerechtigkeit setze ich den Begriff Verteilungsgerechtigkeit entgegen: Was kann es Besseres geben als Verteilungsgerechtigkeit?
@ Achtermann: Damit war die Meinung des Ortsvorsitzenden des Vereins für klare Aussprache gemeint.
Ihr Begriff "Verteilungsgerechtigkeit" gefällt mir.
Lieber Gibson, stimme Ihnen völlig zu. Die ernste Lage, wie Sie zurecht feststellen, wurde vorgestern von Michael Lerchenberg alias Fastenprediger "Bruder Barnabas" äußerst pointiert geschildert. Dafür geht es ihm jetzt wohl an den Kragen:
www.transatlantikblog.de/2010/03/05/harte-gute-nockherberg-predigt-bruder-barnabas-michael-lerchenberg/
Ich bleibe bei meiner und Ihrer Auffassung: Der Westerwelle-FDP wird es an den Kragen gehen, weil sie den Bogen schlicht überspannt hat.
mir gefällt der begriff "Verteilungsgerechtigkeit" nicht sehr viel besser. wer verteilt denn?
Westerwelle hat erreicht, was er auch wollte.
Der Sinkflug der FDP in den Umfragen ist gestoppt, sie hat sogar leicht zugelegt. Desweiteren ist das Thema Spenden (Mövenpick-Partei) in der öffentlichen Diskussion verdrängt worden durch das Thema HartzIV.
Man muß sich dabei natürlich fragen, wieso sich die Öffentlichkeit eigentlich so ein an sich nebensächliches Thema - gemessen an der Finanzkrise -aufzwingen läßt.
Ob es allen klar geworden ist, daß in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten am strengsten sanktioniert wird?
Und daß bei dieser Debatte auch von anderen Parteien nicht das Thema "Zumutbarkeit" angeschnitten wurde, obwohl es kaum noch reguläre Arbeit, besonders für beruflich Ausgebildete, gibt?
zu alledem ein schmankerl aus meiner derzeitigen lokal-presse:
www.echo-online.de/suedhessen/darmstadt/-Spaet-roemische-Dekadenz-in-der-FDP-Geschaeftsstelle;art1231,699512
ups ... der link wird nicht ganz gewollt und ich kann's immer noch nicht, also: wer mag unter "Eklat um Galida in FDP-Geschäftsstelle" im darmstädter echo vom 4.e. selber suchen
Wer verteilt denn? Was für eine Frage! Schau ins Grundgesetz und mach' Deinen Einfluss geltend.
@Rahab: Herrlicher Hinweis!
Wer nicht selber suchen mag, hier wenigstens die Kurzfassung:
"Mitglieder der Gewerkschaftlichen Arbeitsloseninitiative Darmstadt (Galida) haben sich am Mittwochvormittag als Römer verkleidet, um in der FDP-Geschäftsstelle in der Rheinstraße "etwas spät-römische Dekadenz" auszuüben, wie es der Galida-Vorsitzende Helmut Angelbeck formulierte. Die verkleideten Hartz-IV-Bezieher mit ihren Tabletts voller Trauben, Häppchen und Champagner klingelten an der Tür der FDP-Geschäftsstelle und erschreckten den Geschäftsstellen-Leiter Günter Hartel derart, dass er die Polizei rief."
www.echo-online.de/wissen/wissenschaftsstadt/20100305hse./art1231,699512
Auch das Photo mit den dekadenten Römern ist wundervoll:
www.echo-online.de/storage/scl/ngen/suedhessen/darmstadt/103711_m1t1w270q75v57277.jpg
Ein ausgezeichneter Beitrag, dem ich wenig Sinnvolles hinzu zu fügen habe. Außer vielleicht, dass diese offensichtlichen rhetorischen Brandbeschleuniger eines unkontrollierten Westerwelle weniger gefährlich da durchschaubarer sind, als die subtilen Strategien und im Hintergrund gezogenen Fäden einer Interessengemeinschaft bestehend aus Wirtschaftslobbyisten und Regierungsmitgliedern.