Zum Tod der Jawaher Abu Rahmah in Bilin

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Das palästinensische Dorf Bil'in kämpft seit Jahren gegen den israelischen "Sicherheitszaun".

Selbst aus israelischer Perspektive muss man im eigentlichen Sinn des Wortes sagen: zurecht.

Denn der Oberste Israelische Gerichtshof hat in 2007 befunden, dass der Verlauf der Sperranlage im Bereich Bil'in nicht rechtens ist. Das hat die für den Zaun zuständige israelische Armee bislang nicht gekümmert.

So finden in Bil'in an jedem Wochenende Demonstrationen statt, an denen sich neben Arabern regelmäßig Israelis und Friedensaktivisten aus aller Welt beteiligen.

In der Regel setzt die israelische Armee Tränengas ein, um die Demonstrationen aufzulösen oder mindestens zu behindern. Mitunter kommt es zum Einsatz von Blendgranaten und Gummigeschossen.

Ausgerechnet bei der Demonstration zum Jahreswechsel kam es zu einem tragischen Todesfall. Die 36jährige Jawaher Abu Rahmah starb in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar nachdem sie in Tränengas-Schwaden geraten war.

Ich sage bewußt "tragischer Todesfall" und spreche nicht von Schlimmerem.

Sieht man sich eines der zahlreichen Videos auf Youtube an, die es zu den Demonstrationen in Bil'in gibt, kommt man kaum umhin festzustellen, dass einerseits jedermann versucht dem Tränengas zu entkommen, aber anderseits niemand ernsthaft beinträchtigt wird, wenn er in eine Schwade gerät. Mit "ernsthaft" ist nicht das gemeint, was man üblicherweise bei Tränengas zu erwarten hat: gereizte Augen, Übelkeit, Atembeschwerden, Husten, eventuell Erbrechen:

http://www.transatlantikblog.de/wp-content/uploads/2011/01/demonstration-bilin-traenengas.jpg
Demonstranten in Bil'in flüchten vor Tränengas

Doch im Fall von Jawaher Abu Rahmah war die Wirkung eine andere. Sie zeigte sofort schwerere körperliche Symptome, war binnen kurzem nur noch bedingt ansprechbar und verlor das Bewußtsein, als sie ins Krankenhaus von Ramallah eingeliefert wurde. Dort haben Ärzte die Nacht hindurch versucht, sie zu retten. Das ist nicht gelungen.

Für die Familie Rahmah ist dieser Verlust eine doppelte Tragödie, weil im April vergangen Jahres Bassem Abu Rahmah, der Bruder von Jahmah, durch den direkten Treffer einer Tränengasgranate getötet wurde (www.youtube.com/watch?v=5yM9U2y-op4)

Hasbarah oder: Propagandakrieg in vollem Gang

Im hebräischen gibt es den Begriff hasbarah (הסברה), der zunächst nur "erläutern" bedeutet. Seit einiger Zeit wird er in Israel hauptsächlich mit der politischen Sphäre in Verbindung gebracht. In diesem Zusammenhang bedeutet das Wort ungefähr "positive Darstellung der israelischen Politik nach außen".

Obwohl es sich im Fall von Jawaher Abu Rahmah um einen Todesfall handelt, sah sich das Militär oder die Politik in Jerusalem nicht veranlasst, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit "auf den Grund gehen" ist gemeint, einen Sachverhalt anhand gründlicher Recherche zu klären, und nicht ad-hoc-Meldungen herauszugeben, die als endgültige Tatsachen auftreten.

Statt dessen wurde hasbarah in einem bedenklichen Umfang betrieben.

Bei der Demonstration habe es sich nach der Darstellung des Militärs um einen "verbotenen und gewalttätigen Aufruhr" gehandelt ("violent and illegal riot").

Davon kann kaum die Rede sein. Als "illegal" könnte die Demonstration angesehen werden, wenn man das israelische Besatzungsrecht zugrunde legt. Das allerdings ist international insofern mehr als umstritten, als die Besatzung an sich als Unrecht angesehen wird. Spätestens die beiden anderen Attribute "gewalttätig" und "Aufruhr" sind kaum haltbare Übertreibungen. Steine werfen kann man zwar durchaus als gewalttätig ansehen, aber die israelischen Soldaten lassen es in Bil'in der Regel gar nicht dazu kommen, dass Steinwerfer nahe genug heran kommen. In diesem Areal stehen die Soldaten oben auf dem Hügel und die Demonstranten marschieren stets von unten heran. Sobald sie auf 150 Meter herankommen, werden sie mit Tränengas beschossen. Im übrigen sind die Soldaten stets in voller Schutzmontur, der ein Stein nichts anhaben kann. Ein "Aufruhr" schließlich sieht ebenfalls anders aus als die seit Jahren stattfindenden Demos in Bilin.

Wäre es bei dieser politischen Darstellung von "Gewalt und Aufruhr" geblieben, könnte man nachsichtig sein. Wortverdrehungen gehören zum politischen Alltagsgeschäft, und umso mehr muss man sie im Kontext der besetzten Westbank erwarten.

Doch es blieb nicht dabei.

Alles Lügen!

Die Armee erklärte zunächst, dass es sich bei der palästinensischen Darstellung der Todesumstände von Jawaher Rahmah um schlichte Lügen handele, die dem einzigen Zweck dienten Israel und seiner Armee zu schaden.

Die Pressestelle der Armee ließ sodann am Dienstag verlautbaren, Frau Rahmah habe ein Medikament genommen das man entweder bei Leukämie oder bei einer Überdosis Drogen bekommt.

Laut israelischer Armee zeigt der Krankenhausbefund von Frau Rahmah, dass sie während der zehn Tage vor der Demonstration im Krankenhaus von Ramallah wegen Leukämie behandelt worden sei.

Dazu hieß es, Frau Rahmah sei gar nicht bei der Demonstration gewesen, sondern zuhause, und sei auch dort verstorben (an Leukämie, wie Israel heute mit Sicherheit weiß).

Das alles lässt sich nach aktueller Lage schwer bestätigen oder widerlegen (Dokumente wurden meines Wissens keine vorgelegt).

Eine andere Version war: Sie habe unter starkem Asthma gelitten, und sei nur deswegen am Tränengas gestorben. Dass sie an Asthma litt, wurde von der Schwester dementiert. Eine Scheinbehauptung? Wer weiß?

Sehr perfide eine Bloggerversion: Sie sei illegitim schwanger gewesen und habe sich umgebracht um einem Fehmemord zu entgehen. Das sei vertuscht worden, und man habe sie im Zuge der Bilin-Demonstration statt dessen öffentlich als Märtyrerin dargestellt.

Im übrigen, so fragen andere, sei doch äußerst fragwürdig, dass man sie sofort am folgenden Tag bestattet habe, anstatt eine Obduktion vornehmen zu lassen. Damit habe man doch etwas vertuschen wollen. Das könnte theoretisch sein, aber anders herum ist es ebenso plausibel: Wenn die Familie ohnehin genau weiß, woran ihre Tochter starb: Wozu sollte sie dann eine Obduktion vornehmen lassen?

Die Haltung der Armee ist sogar der konservativen Jerusalem Post zuviel. Heute schreibt sie, indem die Armee behauptet, alles sei nur erfunden und zurecht gelegt, erweise sie sich als selbstgefällig und (angesichts einer Toten) herzlos:

by suggesting it’s all made up, IDF is demonstrating contempt for an innocent dead woman.

Hasbarah gibt es offenkundig auch als palästinensische Variante.

Von Beginn an wurde nichts unterlassen, den Tod von Frau Rahmah als Märtyrertod dazustellen und die israelischen Soldaten als ihre Mörderin. Mord aber ist Tötung mit Vorsatz. Man sollte behutsam umgehen mit solchen Vorwürfen. Saeeb Erekat von der palästinensische Autonomiebehörde sprach von einem "Kriegsverbrechen", ebenfalls eine wenig hilfreiche Verzerrung:

We condemn this abominable crime by the Israeli occupation army in Bilin against people taking part in a peaceful demonstration and consider it an Israeli war crime against our people

Obwohl es einige "Zeugen" gab, die die unmittelbare Teilnahme von Frau Rahmah an der Demonstration beteuerten, hat offenbar ihre eigene Mutter angegeben, dass ihre Tochter sich nicht direkt in der Demonstration befand, sondern sich vor dem Haus der Familie aufhielt, das nahe dem Protest-Areal ist. Von der Demo seien Tränengasschwaden herüber gekommen, hätten Abu Rahmah erreicht und zu dem schlimmen Ausgang geführt.

Die Krankenhausberichte scheinen in mehrfacher Hinsicht merkwürdig unterschiedliche Angaben aufzuweisen. Michael Sfard, der israelische Anwalt von Bil'in konnte dazu nur angeben, das sei der Hektik der Situation geschuldet. Kann sein.

Manche legen nahe, bei dem Tränengas habe es sich um ein besonders gefährliches, womöglich tödliches Mittel gehandelt. Von Phosphoranteilen war die Rede. Doch wären angesichts der Vielzahl an Demonstranten dann auch viele Opfer zu beklagen gewesen, weswegen dieser Vorwurf als unsinnig gelten muss.

Der Arzt, in dessen Praxis Frau Rahmah arbeitete hat wiederum angegeben, dass sie noch einen Tag vor den Demonstration bei bester Gesundheit war.

Wie die in solchen Fällen meist zuverlässige Haaretz recherchierte, litt Frau Rahmah an einer nicht genau diagnostizierten Ohrgeschichte, wogegen sie auch Medikamente nahm. Ihr Bruder gab zudem an, sie habe in letzter Zeit unter Kopfschmerzen und Schwindelanfällen gelitten (letzteres nicht unüblich bei Ohrenleiden).

Vertraut man den Aussagen des Klinikpersonals von Ramallah, war die konkrete Todesursache eine zu hohe Menge an Tränengas, die den Erstickungstod herbei geführt hat:

Dr Mohammed Eideh, who treated Abu Rahmeh in Ramallah, said she died of "respiratory failure and then cardiac arrest" caused by inhalation of tear gas. He said he did not know whether she had a pre-existing condition.

Fazit

Lässt man die offenkundig interessengesteuerten Übertreibungen und Verfälschungen auf beiden Seiten weg, scheint folgendes vorzuliegen (und die Medienlage ist so widersprüchlich, dass es eine Schlußfolgerung mit großem Vorbehalt ist):

Offenbar hatte Jawah Abu Ramah eine unglückliche Kranken-Vorgeschichte, mit der sie dem Tränengas ausgesetzt wurde und deshalb starb. Es hat sich nicht um Mord*, nicht um Totschlag und wohl auch nicht um fahrlässige Tötung gehandelt (Totschlag oder mindestens fahrlässige Törung dürfte zutreffen im Fall von Bassem Abu Rahmah, da Zeugen aussagten, die israelischen Soldaten hätten versucht ihn gezielt mit einem Tränengaskanister zu treffen).

Das ändert nichts an dem grundlegenden Übel, dass es sich bei der Sperranlage um Bil'in selbst aus israelischer Sicht um einen illegalen Übergriff gegen die palästinensische Bevölkerung handelt.

Ohne die Sperranlage wäre es nicht zu diesem weiteren Todesopfer gekommen. Insofern liegt eine politische Verantwortung vor.

Es hätte seitens der israelischen Armee und anderer Offizieller vollkommen genügt, die tragischen Umstände dieses Todes aufzuklären. Die "moralischste Armee der Welt" hätte auch gut daran getan, ein Wort des Beileids auszusprechen.

Es hätte seitens der palästinensischen Organisatoren von Bil'in und der PA genügt, den Tod der jungen Frau zu betrauern und darauf hinzuweisen, dass sie aufgrund einer unsäglichen Besatzungssituation sterben musste. Man muss nicht bei jeder Gelegenheit "Mord!" und "Kriegsverbrecher!" oder Schlimmeres schreien.

Statt dessen scheinen in diesem konkreten Fall beide Seiten Propagandamethoden zu bevorzugen, unter denen letztlich die Glaubwürdigkeit beider leidet.

Der Tod eines Menschen kann auch dadurch entwürdigt werden, daß man ihn zu politischen Zwecken mißbraucht. Politische "Strategen" werden das freilich anders sehen.

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* Definition Mord nach deutscher Rechtslage (§211 STGB) :

Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.

Leseempfehlungen: MondoPrinte [1] [2]; T.A.B.; 972Mag

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Geschrieben von

schlesinger

"Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt" Jorge Louis Borges

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