Karneval im Post-Colognialism

#NichtMeinLand Ich möchte, dass wir uns die Zeit nicht nehmen lassen, die Dinge wieder differenzierter zu betrachten und zu beschreiben. Ein Essay

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Ich möchte endlich wieder unbesorgte Bürgerinnen sehen. In Paris und in Istanbul, in Kopenhagen und in Berlin, in Dresden, in Leipzig und natürlich in Köln. Ich möchte, dass mit dem Frühling auch eine Unverzagtheit durch Europa zieht, weil uns ja gar nichts anderes übrig bleibt, als unverzagter zu werden. Ich möchte, dass wir nicht mehr gezwungen sind, die Welt zu teilen in zwei Gruppen des Geschreis, zwei Anwaltschaften der Auswegslosigkeit, zwei Blindgängern der Kritik, die sich von links und rechts erbarmungslos ins Auge starren. Ich möchte nicht, dass sich die Guten gegeneinander mobilisieren lassen und das Gute zerredet wird, ich möchte mir keine Welt einreden lassen, in der man entweder Feministin oder Fürsprecherin von Geflohenen sein kann, nicht aber beides zugleich. Ich möchte, dass wir wieder anfangen zu denken, und zwar auf einer Höhe, von der aus man sich nicht zu schämen braucht vor unseren Lehrern, mögen sie aus Athen oder Babylon, aus Heliopolis oder Jerusalem oder sonst woher stammen. Ich möchte, dass dieses Denken unsere Gefühle erzieht, nicht um sie zu unterdrücken, sondern um sie feiner, sensibler, verletzlicher zu machen, ich möchte umgekehrt, dass unsere Gefühle einen Raum im Denken bekommen, von wo aus sie uns über das Wichtige und das Unwichtige belehren.

Ich möchte, dass wir uns die Zeit nicht nehmen lassen, die Dinge wieder differenzierter zu betrachten und zu beschreiben, und dass wir diese Differenziertheit von einander einfordern. Dass wir nicht in diese absurde Alternative gezwungen werden, entweder von allen Hintergründen – seien sie sexueller, kultureller, politischer, religiöser Natur – abzusehen, oder alles auf diese Hintergründe solange zurückzuführen, bis sie damit verschmelzen, und wir gar nichts mehr erkennen. Dass unser Ringen um Verstehen nicht zerschlagen und zerspalten wird in ein naives Entschuldigen oder ein dumpfes Verurteilen. Dass wir, während wir versuchen die Anderen zu verstehen, auch uns selbst ein bisschen besser verstehen. Dass wir uns gelegentlich wieder fragen: Was machen wir da eigentlich? Was sagen und behaupten wir da eigentlich? Und vor allem: Was wollen wir eigentlich.

Denn gleichzeitig müssen wir einige Dinge viel klarer sehen: Dass beispielsweise diejenigen, die von Obergrenzen reden, weil Deutschland an die Grenze seiner Belastbarkeit gekommen sei, eben nicht wissen, was zu schaffen ist, weil sie gar nicht wissen wollen, was man schaffen könnte. Dass diejenigen, die sich gegen den Einfall einer „nordafrikanischen“ Macho-Kultur wehren, eben keine Feministen sind, weil ihnen Vergewaltigungen egal sind, solange sie nur jenseits der Landesgrenze vonstatten gehen. Dass sie nicht verstehen, dass Feminismus niemals nationalistisch sein kann. Dass diejenigen, die nach einer Islam-Kritik schreien, die ja wirklich lehrreich für alle sein könnte, noch keine einzige Zeile einer solchen Kritik zustande gebracht haben, weil sie außer fünf mühsam zusammengegoogelten Suren vom Islam keine Ahnung haben. Dass gerade diejenigen, die unablässig nach Kritik rufen, letztlich diese Kritik gar nicht wollen, weil sie, was aber Voraussetzung jeder Kritik ist, gar nicht an der Wahrheit interessiert sind, sondern den Islam selbst nicht wahrhaben wollen. Dass ebenso diejenigen, die am lautesten nach Integration rufen, eine Integration wollen, die so total ist, dass sie sich selbst ins Absurde verkehrt. Sie verlangen eine Integration, die unsichtbar macht, eine ausmerzende, assimilierende Integration, deren Resultat dasselbe zu sein hat, wie das einer Abschiebung.

Ich wünschte, dass wir nicht jedesmal bei der Erkenntnis, dass in der Realität alles schwieriger und komplizierter ist, traurig abbrechen, sondern endlich dort mit dem Nachdenken anfangen würden. Zum Beispiel darüber, wie Europa in zwanzig Jahren aussehen wird, welche Kultur es eigentlich ist, in die sich da integriert werden soll. Die Tatsache, dass sich die Integration in dieses Land so schwierig gestaltet, könnte ja auch auf ein Problem hinweisen, dass wir – diejenigen, die kommen und diejenigen, die da sind – gemeinsam haben. Dass wir nämlich vergessen haben, wer wir sind und was wir wollen. Und dass die Angst vor dem Wandel durch das Fremde gar nicht die Angst vor einem Identitätsverlust ist, sondern die Angst, anzuerkennen, wieviel bereits verloren ist. Und dieses Problem könnte das viel dringendere politische Problem Europas sein, als die eine oder andere Finanzkrise. Ich wünschte, es gäbe hier bei uns ein politisches, den Herzschlag antreibendes Begehren nach Europa, dass mit der Sehnsucht nach Europa, die zumindest manche der Fliehenden antreibt, mithalten kann. Ein Begehren, das unseren ganzen Gefühlen und Affekten – der Angst, der Empörung, der Hilflosigkeit, des Mitleids, der Wut – eine Ebene eröffnen könnte, auf der sie endlich Sinn über den Tag hinaus, jenseits des Moments der Erregung zeitigen würden. Ein heiß umkämpftes, leidenschaftlich erstrittenes Begehren, das endlich auch anderen Gefühlen als Besorgtheit und Ressentiment einen Raum und Luft zum Atmen gäbe. Dass uns die Eintönigkeit unserer politischen Affekte, die Einfallslosigkeit unserer Gefühle und die Biederkeit unserer Leidenschaften nicht längst aufgefallen ist als ein klares Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, dass unsere Wahrheiten nicht wahr sein können und unsere Schlussfolgerungen nicht korrekt, ist das nicht das eigentlich Bedenkliche? Dies zu behaupten, ist keine Vertuschung und kein Kleinreden der aktuellen Probleme, es ist einzig die Gewissheit, dass wir dabei sind, jene Aktualität, die sich Krise nennt, auf Dauer zu stellen und zum einzigen Lebensgefühl werden zu lassen. Nicht mein Lebensgefühl. Nicht mein Land. Wo ist das politische Begehren, dass Angst durch Neugier ergänzt, Empörung durch Begeisterung, Hilflosigkeit durch Tatendrang, Mitleid durch Sympathie, und profane Wut durch einen heiligen Zorn, dem es noch um etwas anderes geht als um sich selbst.

Frag mal Serhat, den sein bewegtes Schicksal nach Gütersloh geführt hat, und der, endlich in Berlin angekommen, sagt: „I tried hard to integrate but all I found was Fußgängerzone.“ Eure Kultur, sagt Serhat, ist zu teuer und zu einsam. Eure Feste feiert ihr allein, eure Gebete betet ihr allein, euer Essen esst ihr allein, eure Musik hört ihr allein, selbst tanzen – tut ihr eigentlich allein. Ihr trefft euch im Internet, wo ihr euch nicht treffen müsst und raucht hinter Absperrungen, kein Wunder, dass ihr trinkt um zu vergessen. Wie, fragt Serhat, soll man sich denn in die Einsamkeit integrieren.

Ich möchte endlich wieder unbesorgte Bürger sehen. Und wenn Deutschland ein einsames Land ist und Europa tot, dann ist vielleicht die Zeit der Städte gekommen. Städte hatten immer schon die Fähigkeit, Stolz zu produzieren, ohne chauvinistisch zu sein, und Gleichheit herzustellen ohne zu nivellieren. Ich wünsche mir ein Fest in diesen Städten, das weder religiös noch national ist und das nichts mit Andenken und Schweigeminuten zu tun hat. Ein Fest, das man gemeinsam feiern muss, oder man hat es gar nicht gefeiert. Ein Fest das Hierarchien aufhebt, damit man einmal wenigstens jemandem begegnen kann, dem man sonst nicht begegnet. Vor 5000 Jahren wurde in den ersten urbanen Räumen zwischen Euphrat und Tigris der Karneval erfunden, ein siebentägiges Fest, bei dem die Sklavin der Herrin gleichgestellt ist und der Sklave an der Seite des Herrn steht, in der Gleichheit zum ersten Mal nicht als kaltes Recht gedacht wurde, sondern als Ekstase, es lädt den Tod ein aber auch die Lust. Dieses Fest, dass fast alle Kulturen kennen, ist die Probe, ob wir Gleichheit wirklich ertragen, und wir ertragen sie nur, wenn wir sie als Grund zum Feiern verstehen. Kölle Alaaf.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. Dorothea Schmelin

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Dr. Dorothea Schmelin

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