Aus der Zeit gefallen

Zeitschriftenschau Kolumne

Als Wolfgang Hilbig im vergangenen Juni im Alter von fast 66 Jahren an Krebs starb, erschienen Nachrufe in beinahe allen Tages- und Wochenzeitungen, am anrührendsten wohl der von Ingo Schulze in der FAZ. Die literarischen Zeitschriften haben bislang kaum auf den Tod dieses - wie ich meine - dunkelsten und wortmächtigsten Dichters meiner Generation reagiert, dessen Sprache eine Magie entfaltet, der man sich schwer entziehen kann. Wie der 1941 im sächsischen Braunkohlegebiet geborene ehemalige Werkzeugmacher und Heizer, der nur die Volksschule besucht hat, zu solcher Tiefe der Reflexion fand, wird immer ein Rätsel bleiben. Im Grund ist alles, was Hilbig geschrieben hat, gelungen, und zwar auf höchstem Niveau: die frühen und die späten Gedichte, die Kurzprosa, die Erzählungen, die Romane. Er war tatsächlich - so Ingo Schulze in der Boxersprache - "der Champion".

Im Septemberheft der kleinen Zeitschrift Der Literat findet man ein wohl informiertes Hilbig-Porträt von Inka Bohl. Als ein "aus der Unschuld gefallenes Kind" und zugleich als "Zeugen" stellt sie ihn dar, der den Alten abgelauscht habe, was geschah. So trat neben "Erdkunde", die ihm unbewußt zukam, "Menschenkunde, Kriegs-, Holocaust-, doppelte Totalitarismuskunde mit Einbeziehung der akuten Ideologisierung."

Den im engeren Sinn "politischen" Hilbig versucht der Schriftsteller Siegmar Faust im Novemberheft des Merkur vor westlichem Miß- und Unverständnis zu retten. Der querköpfige Faust war politischer Gefangener in der DDR und nach der Wende Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Sachsen. Als naher Freund Hilbigs hauste er 1968 mit ihm und anderen jungen Künstlern in einem Abrisshaus in der Leipziger Junghanßstraße. Von ihrem bald scheiternden Zusammenleben zeugt Hilbigs großartig-schauerliche Erzählung Versuch über Katzen.

Faust, der heftige und gewiß nicht unbegründete Vorbehalte gegenüber den "linken Apologeten des Fortschritts" hegt, will glaubhaft machen, dass Hilbig "in erster Linie ein äußerst exakter Beobachter, ja fast naturalistischer Beschreiber seines proletarischen Milieus" war und damit die sozialistische Propaganda "radikal demaskierte". Das ist zu vordergründig gedacht. Denn es ging Hilbig ja nicht um Abbildung von Wirklichkeit und Entlarvung der Parteiphraseologie. Er hat das sozialistische wie das kapitalistische Realismuskonzept verworfen, weil es nicht tief genug in die Abgründe der Psyche und den "Geist des Universums" reichte, und orientierte sich lieber an Romantikern wie Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann.

Auch Einar Schleef war so ein von Literatur Besessener aus der DDR-Provinz. 1944 in Sangerhausen geboren, starb er bereits 2001. Schleef sah sich als Kämpfer und mehr noch Märtyrer, als Bruder Nietzsches, dessen Ecce Homo er auf der Bühne unter Tränen rezitierte, ein Stotterer - vor allem ein ehrgeiziger Autodidakt, der zugleich dichtete, malte, fotografierte und Theater machte. Im Oktoberheft der Zeitschrift Literaturen stellt Sibylle Wirsing souverän der egomanischen Universalkünstler vor, der nicht müde wurde, sein armes Ich zu bejammern.

Anlaß ist das Erscheinen des dritten Bandes seines Tagebuchs. Schleef hatte sich in seinem sechsten und letzten Lebensjahrzehnt daran gemacht, die Tagebücher seiner Jugend zu bearbeiten. Er kopierte die alte Handschrift und kommentierte sie laufend, so dass der Urtext eine ganz neue Gestalt bekam. Der Suhrkamp Verlag lehnte eine Publikation zunähst ab. Erst nach Schleefs Tod entschloss man sich zur Herausgabe und teile den Korpus in fünf Bände, von denen bisher drei erschienen sind, die insgesamt knapp 1.500 Seiten umfassen.

Schleefs Tagebuch erinnert auch methodisch an seinen Erstling aus den achtziger Jahren, den zweibändigen Mutter-Monolog Gertrud. Sibylle Wirsing sieht im Riesen-Projekt des Tagebuchs mehr eine "Schutthalde" denn ein "Werk" (es sei denn ein "Zertrümmerungswerk") und spricht ironisch vom "Schleef-Deutsch", von "Rohlingen, die, von der Hand des Meisters nach Beute geschickt, wahre Totschläger sind."

Der Literat Heft 9, 2007 (Postfach 19 19 23, 14008 Berlin), 8,50 EUR

Merkur Heft 11, November 2007 (Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 11 EUR

Literaturen Heft 10, Oktober 2007 (Reinhardtstraße 29, 10117 Berlin), 9 EUR

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