Aus sicherer Distanz

Zeitschriftenschau Kolumne

Der lange verkannte Robert Walser ist schon immer ein Dichter für Dichter gewesen. Kafka war früh von seinem Werk angezogen, ebenso Hermann Hesse, und auch an seiner Wiederentdeckung waren Schriftsteller beteiligt, vorweg sein Vertrauter, Vormund und späterer Nachlassverwalter Carl Seelig, doch auch Wolf Wondratschek und die ersten Redakteure der monographisch orientierten Zeitschrift text + kritik haben sich Verdienste erworben. Vor allem aber ist Walsers posthumer Erfolg, seine Entwicklung vom Außenseiter zum Klassiker, Jochen Greven zu danken, der die zwanzigbändige Werkausgabe ediert hat.

Vor nunmehr 40 Jahren begannen in der damals noch kleinen Redaktion von text + kritik, ein Jahr nach der Gründung, Gespräche über ein ganz Robert Walser gewidmetes Heft, an denen neben Wondratschek noch Lothar Baier und Heinz Ludwig Arnold beteiligt waren. Das Heft erschien 1966, mit Beiträgen von Martin Walser, Herbert Heckmann und anderen, eine zweite, völlig veränderte Auflage 1975, eine dritte 1978. Die nun vorliegende vierte Auflage, wiederum eine Neufassung, ist ein mehr als 200 Seiten starker Band mit rund 20 Beiträgen, der dem Meisterforscher Jochen Greven gewidmet ist, aber auch, noch im letzten Moment, an den Schriftsteller und Kritiker Lothar Baier erinnert, 1963 Mitgründer der Zeitschrift, der sich im vergangenen Sommer in Montreal das Leben genommen hat.

Man hat Baiers 1966 erstmals veröffentlichten Aufsatz über Robert Walsers Gedichte einleitend noch einmal abgedruckt, ein Text, dessen zentrale Erfahrungen bis heute gültig sind. Zwar sei "nichts geschliffen", heißt es dort, sondern alles "etwas holprig und launisch", doch "die Gedichte scheinen in einer Weise schon fertig zu sein, als gäbe es nur diese und keine andere Möglichkeit des Ausdrucks". Baier sieht bei Walser eine "neue Sprache des Ornaments" verwirklicht. Das Disparate seiner Gedichte sei weniger ein Indiz des Mangels an Können als der Unmöglichkeit, "Unmaß mit Gleichmaß zu beantworten". Und er kommt zu dem nüchternen Schluss, ein großer Lyriker sei Walser nicht gewesen. Die literarischen Revolutionen, von der Entdeckung der französischen Symbolisten in Deutschland bis zu Dada und Expressionismus, hätten ihn nicht berührt. Das "Postulat der Kunst" habe er in seiner Lyrik nur "hie und da gestreift", in seiner Prosa aber "mit schlafwandlerischer Sicherheit im Kern getroffen".

"Ich war immer einsam", schreibt Walser in einem seiner zahllosen Prosastücke, "und infolgedessen immer auf irgendwelchen Kampf vorbereitet." Souverän hat Jochen Greven, aus der Fülle seines Willens heraus, ein fiktives Gespräch mit diesem Einsamen komponiert, der den Literaturbetrieb verachtet und niemals ein Interview gegeben hat. Man wandert beim Reden nicht umher, wie es dem Walser-Mythos entspräche, man sitzt in einer Bibliothek und spricht über Leben und Schreiben des Dichters, dessen Antworten, seinen Werken und Briefen entnommen, seltsam fremd und gerade dadurch so passend wirken, etwa: "Wie ich zum Dichten kam, weiß ich selber nicht recht." Oder: "Vielleicht war Unwissenheit das Schönste, was ich besaß."

Der französische Schriftsteller Daniel de Roulet hat einen ebenfalls fiktiven Monolog von Frieda Mermet beigesteuert, jener Büglerin, die mit Walsers Schwester Lisa befreundet war. Walser hat ihr tatsächlich über Jahre hin Briefe geschickt, die sie für Liebesbriefe hielt, und vielleicht sollten es auch welche sein, "unengagierte Liebesbriefe", Botschaften aus sicherer Distanz. So steht also Frieda Mermet, 15 Jahre nach Walsers Tod, auf dem Friedhof der Irrenanstalt Herisau und sagt: "Herr Walser, erinnern Sie sich an mich?"

Neben Schriftstellern schreiben in text + kritik natürlich vor allem Literaturwissenschaftler, etwa Wolfram Groddeck (zur Niederschrift des Romans Geschwister Tanner) oder Martin Jürgens (zu Walsers Helden, die nicht im Erwerben, sondern im Aufgeben von Identität vorbildlich sind); gut lesbare Aufsätze, auch wo sie Einzelaspekten gewidmet sind. Das ist überhaupt das Schönste an diesem Band (dem nur leider eine Bibliographie fehlt), dass fast alle Beiträge es verstehen, nicht germanistisch, sondern deutsch zu schreiben, obwohl es noch immer von Fußnoten nur so wimmelt. Ein geistig anregendes Heft, das Lust auf eine erneute Walser-Lektüre macht, diesmal vielleicht auf einen Ausflug in die Regionen seines "Bleistiftgebiets".

text + kritik, Nr. 12/12a, Oktober 2004, 23 EUR


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