Bewältigen als Lebensform

Zeitschriftenschau Kolumne

Die Zeitschrift Kommune, 1982 als Forum für Politik, Ökonomie und Kultur begründet, ist hervorgegangen aus einem maoistischen Organ namens Kommunismus und Klassenkampf, welches seinerseits auf das Heidelberger Studentenblatt forum academicum zurückweist - eine hier verkürzt dargestellte, doch nicht unübliche Entstehungsgeschichte. In ihren ersten Jahren war die Kommune eine lebendige Monatsschrift der heimatlos gewordenen Linken, bis sie sich, als eine Art inoffizielles Theorieorgan, den Grünen andiente. Lange vor der Wende wurde umfassend über die Situation in Osteuropa und auf dem Balkan berichtet, und es gab, Heft um Heft, eine "grüne Strategiedebatte".

Seit der allmächtige Chefredakteur Joscha Schmierer in Fischers Außenministerium planend tätig geworden ist und Die Grünen eine ganz normale Partei geworden sind, ist auch die Kommune naturgemäß ruhiger, biederer, man könnte auch sagen, ein Stück weit staatstragend geworden. Alle zwei Monate erscheint ein umfängliches Heft mit traditionell schwachem Feuilleton und materialreichem Politikteil, dazu oft spannende Essays und besondere Schwerpunkte, so im jüngsten Heft ein solcher zum Thema "Zukunft der Städte" (lauter schwer lesbare Texte).

Zum Glück ist Gerd Koenen da. Bekannt geworden durch seine 68er-Geschichte Das rote Jahrzehnt, reflektiert er über die häufig gedankenlos gebrauchten Begriffe Antisemitismus und Antizionismus. Was wäre, so Koenen, wenn im Fall des Antizionismus der Sowjetkommunisten und der westdeutschen Linken, vor allem der Islamisten, nicht ein altbekannter "Dämon" wiederkehre, sondern etwas anderes und Neues, aus der jeweils konkreten Situation entstanden; eine "genuine Neuschöpfung totalitärer Ideologien", die auf die radikale Veränderung der Weltsituation reagieren?

Koenen interessiert sich speziell für das Wiederauftauchen eines linken Antizionismus in der Bundesrepublik der späten sechziger und siebziger Jahre. Damals sei zuerst unter Jüngeren die Tendenz zu Tage getreten, sich "Auschwitz als eines eigenen negativen Mythos zu bemächtigen", anfangs wohl mit dem Ziel, sich radikal von der Elterngeneration abzunabeln, bald aber auch, um sich selbststilisierend "in den Stand einer militanten Unschuld und moralischen Superiorität zu versetzen". Als "Faschisten der Gegenwart" waren flugs die gerade in Vietnam "ein neues Auschwitz" veranstaltenden Amerikaner ausgemacht, und schnell waren auch die im Sechstagekrieg von 1967 siegreichen Israelis Teil eines "globalisierten Zionismus", der nur weltrevolutionär zu bekämpfen war. Israel wurde geläufig als "rassistischer Staat" und "Werkzeug des Imperialismus" denunziert, die Palästinenser hingegen als "Opfer der Opfer" umarmt.

Bei all dem handelte es sich, so Koenen, um den Versuch, sich von etwas Belastendem und Kränkendem gewaltsam zu befreien. Es gebe eine eigentümliche "narzisstische Bindung der Deutschen an Auschwitz", denen, vom Holocaust-Mahnmal bis hin zum Hohmann-Lamento, "Vergangenheit bewältigen" zur Lebensform geworden sei: "Indem wir uns mit den Opfern von einst ganz identifizieren und auf ihre Seite stellen, gehören wir auch zu ihnen." So soll Auschwitz der Bundesrepublik auch noch als "nachträglich einverleibter Gründungsmythos dienen".

Auch Günter Franzen, Psychoanalytiker in Frankfurt, kratzt in der Kommune (und textidentisch im wespennest Nr. 136) am Mythos 68. Waren es wirklich die schweigenden (Nazi-)Väter, gegen die wir rebellierten? So viele Väter waren doch gar nicht heimgekommen, oder erst spät und zerbrochen. Wurden da nicht die Mütter übersehen? Franzen berichtet von vier Altersgenossen der Jahrgänge 1940 bis 1950, die unerwartet früh gestorben sind, Wegbegleiter, denen er nachtrauert, derweil an ihren Gräbern die greisen Mütter stehen, scheinbar regungslos und kerzengerade. Selbst wenn das in diesen Fällen so gewesen sein sollte - verkraften die "deutschen Mütter" wirklich ungerührt alles? Oder wird hier nicht nur ein anderes Klischee aufgewärmt, das von erbärmlich schwachen Männern und dominanten (Trümmer-)Frauen handelt und aus diesem Widerspruch das frühe Sterben der Söhne erklären will, genauer: aus deren "Feigheit vor der Frau" und deren Unfähigkeit, "die Macht der alleingelassenen Mütter" zu begrenzen? War 68 tatsächlich eine "muttergestützte Rebellion", und hätten wir, wären wir weitsichtiger gewesen, gegen das Matriarchat aufbegehren sollen, zu Hause statt auf der Straße?

Kommune: Nr. 5, Oktober/November 2004 (Postfach 90 06 09, 60446 Frankfurt am Main), 10 EUR


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