Gelegentlich ist zu hören, meinen Besprechungen mangle es an politischer Brisanz. Anders als früher gelte mein Interesse nun vorwiegend literarischen Themen, besonders solchen aus der Vergangenheit, etwa den vergessenen Dichtern und ihren Werken. Eine solche Tendenz der Abkehr vom aktuellen Geschehen ist kaum zu bestreiten; sie hat ihren Grund in der Verfasstheit des Politischen selber. Indes habe ich mich aufgerafft und den Hügel der angesammelten Kulturzeitschriften nach politisch Brauchbarem durchforscht.
Ein Ereignis, das mich in den vergangenen Monaten mit am heftigsten beunruhigt hat, war der professionell exekutierte Mord an der Moskauer Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006 im Flur ihres Mietshauses. Die Mörder dieser wohl ernsthaftesten und direktesten Regime-Kritikerin wurden bis heute nicht ermittelt, von den Hintermännern ganz zu schweigen. Mag dieser Skandal in Russland nur Randgruppen berühren, in deutschen Zeitungen und Zeitschriften ist er, als Teil des "Systems Putin", bis heute gegenwärtig; man beobachtet die Entwicklung misstrauisch.
"Schreiben, leben und sterben in Putins Russland" lautet der Schwerpunkt im Aprilheft der Zeitschrift Literaturen. Jeder, meint der Publizist Gerd Koenen, der sich im heutigen Russland Putin entgegenstelle, befinde sich "ohne Übertreibung in tödlicher Gefahr." Eine organisierte Opposition gebe es praktisch nicht mehr; die Medien sind an die Kette gelegt worden. Das Volk schweige, ja es habe Putin 2004 sogar mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit wiedergewählt. Wovor also, fragte Anna Politkowskaja in ihrem 2007 in Deutschland, doch bisher nicht in ihrem eigenen Land veröffentlichten Russischen Tagebuch (Freitag 25/2007), wovor haben die Herren im Kreml solche Angst? Der Mord an ihr war nur einer in einer Serie von Morden an Journalisten seit Putins Machtantritt im Jahr 2000. Kein einziger wurde aufgeklärt.
Das Vergehen von Anna Politkowskaja war in den Augen der Mächtigen wohl - so Koenen - "die Überschreitung ihrer Rolle." Sie wollte denen eine Stimme geben, die keine mehr haben: den russischen Soldatenmüttern ebenso wie den Angehörigen der in Tschetschenien und Inguschetien Verschleppten und Ermordeten. Sie berichtete authentisch über Massaker, Folterungen und Vergewaltigungen durch das Militär und den Geheimdienst. Wobei Koenen zu Recht anmerkt, dass es "im Unterschied zum amerikanischen Krieg im Irak", über den die US-Medien tagtäglich berichten, über den nicht endenden Tschechenien-Konflikt "keine politische Diskussion, keine Öffentlichkeit, geschweige denn parlamentarische oder juristische Kontrolle" gibt. Dem aus dem Geheimdienst hervorgegangenen Putin scheint es vor allem darum zu gehen, dem "Zerfall Russlands" ein Ende zu setzen, und zwar mit allen Mitteln. Wer ihm dabei in die Quere kommt, muss ausgeschaltet werden, mag er im Westen auch noch so berühmt sein.
Auch Hans-Martin Lohmann beklagt im Maiheft der sozialdemokratischen Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte die Gewaltexzesse im Russland Wladimir Putins, dem Gerhard Schröder bekanntlich mit dem Prädikat "lupenreiner Demokrat" einen Persilschein ausgestellt hat. Lohmann preist die "seltene Hartnäckigkeit" und den "persönlichen Mut" Anna Politkowskajas, die jahrelang gegen die Verhältnisse in ihrem Land angeschrieben habe, "wohlwissend, daß sie damit ihr eigenes Todesurteil formulierte." Dafür müsse dieser "Freiheitskämpferin" postum der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen werden. Wenn es einen Menschen gebe, der dieser Auszeichnung würdig sei, dann sie.
In dem bereits erwähnten Heft der Literaturen schildert René Aguigah einen Besuch im winterlichen Moskau bei dem Philosophen und Publizisten Michail Ryklin, der an der dortigen Akademie der Wissenschaften lehrt. Er sei eigentlich kein politischer Mensch, betont der 1948 geborene Ryklin mehrfach, doch "die Intoleranz der gegenwärtigen russischen Kulturszene" und der "lebendige Antisemitismus" hätten ihn - selbst Jude - nicht schweigen lassen. Ryklin berichtet von der Verwüstung einer religionskritischen Ausstellung im Jahr 2003 durch orthodoxe Bilderstürmer, worauf jedoch nicht etwa die Täter, sondern die Ausstellungsmacher und die beteiligten Künstler, darunter Ryklins Frau Anna Altschuk, vor Gericht gestellt wurden; er berichtet von damit einhergehenden Mordversuchen und Morden.
Doch der international anerkannte Philosoph und seine Frau sind nicht verstummt oder in den Westen emigriert, sie leben nach wie vor in Moskau. Ryklin hat das Geschehen um die Kunstausstellung in seinem jüngsten Buch Mit dem Recht des Stärkeren (Freitag 11/2007) analysiert. Seit 1995 sendet er deutschen Lesern "Korrespondenzen aus Moskau", die in der großartigen Zeitschrift Lettre International veröffentlicht werden. In Heft 76 war noch einmal von jener verwüsteten Ausstellung "Achtung, Religion" die Rede, doch nur, um auf eine im vergangenen Januar eröffnete Moskauer Gegenausstellung Putin ergebener Künstler mit dem bezeichnenden Titel "Ich glaube. Projekt künstlerischer Optimismus" aufmerksam zu machen.
In der jüngsten Ausgabe von Lettre erinnert Ryklin an den bedeutenden Schriftsteller Warlam Schalamow, der 20 Jahre Haft in stalinistischen Lagern überlebt und über diese Schreckenszeit Zeugnis abgelegt hat. Seine Geschichten aus Kolyma berichten von höllischer Grausamkeit, aber auch von menschlicher Größe jener Helden, die nicht bereit waren, für das pure Überleben zu Denunzianten zu werden. Ryklin knüpft daran die Frage, warum uns heute "auch nur der geringste Akt des Widerstands so unendlich schwer" falle, wo doch "unsere Lage weit weniger hoffnungslos" sei als die Schalamows und der Millionen Opfer im noch immer nicht aufgearbeiteten sowjetischen Gulag.
Literaturen: Heft 4, 2007 (Reinhardtstraße 29, 10117 Berlin), 9 EUR
Lettre International; Nr. 76 und 77, 2007 (Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), je Heft 11 EUR
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte: Heft 5, 2007 (Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin), 5,50 EUR
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