Dorfdeutschland

TEXTGALERIE Guntram Vesper: Das fremde Kind

Guntram Vesper

Das fremde Kind

Jetzt erlebe ich die langen Abende der Kinderzeit

in den überfüllten Häusern von Frohburg wieder

wenn die Kälte gegen die

knackenden Scheiben drückte.

Man saß zu Hause

oder bei der Familie eines Freundes

um die Petroleumlampe in der Küche

still, sagte jemand, und

alle lauschten

lang anhaltende Rufe waren zu hören.

Es ertrinkt wieder einer im Fluß.

Dann wurde von Leuten erzählt, die

auf schreckliche Art

gestorben waren

durch scheuende Pferde, giftige Ofengase.

Manchmal fragte ich weiter.

Wieso, wurde gesagt

ist denn

noch mehr geschehen.

Als Sohn eines Landarztes im Jahr 1941 in der sächsischen Kleinstadt Frohburg geboren, kam Guntram Vesper 1957 mit seiner Familie in die Bundesrepublik. Er besuchte ein Internat, studierte später einige Semester Medizin und Germanistik und lebt seither als Schriftsteller und Privatgelehrter in Göttingen und in Steinheim am Vogelsberg. So formuliert, verschweigen die biographischen Angaben mehr als sie preisgeben, etwa den schmerzenden Verlust der Heimat, die Qualen in einem armen hessischen Internat, das - aus welchen Gründen? - abgebrochene Studium, aber auch die ein Stück weit wiedergefundene Heimat im Dorf Steinheim und die selbstbewusste Annahme der Rolle eines "Privatgelehrten", die historisch allein vermögenden Großbürgern zukam.

Früh fand Vesper seine Themen. Die Gegenstände seiner Dichtung lagen auf seinem Lebensweg, er musste sie nur aufheben und sich zurechtschneiden. Im Mittelpunkt steht die Nachkriegszeit im geteilten Deutschland, Dorf und Kleinstadt, Teich und Abendwald, eine enge, unheimliche Szenerie voller Kriegsreste wie Holzschuhe, zerfressene Totenschädel, Aktentaschen aus Pappe. Wachtürme tauchen auf, Stacheldraht und eine abgründige Einsamkeit, im Osten wie im Westen ein "dunkles, schwer schlafendes Land", in dem alle zu leiden scheinen, Einheimische, Vertriebene wie auch Tiere.

Wie kann sich ein junger Mensch in einer so toten Welt orientieren? Wie die Erinnerungen, die vorwiegend aus Horrorbildern bestehen, zusammenfügen und herausfinden, wer man ist? "Schreib auf / dies und das: / alles ist wichtig." Vesper hat früh das Notieren als Selbstrettung erfahren und mit Versen versucht, die Angst zu bannen. Er hat dabei auch den kühlen Blick auf die verschwindenden Dinge eingeübt, die Sicht des Fremden, der stets am Rand bleibt. Seine Gedichte waren von Anfang an karg, lakonisch auf das Wesentliche komprimiert. Vesper feilt an ihnen, er schreibt jeden Text in seiner schön stilisierten Handschrift mit der Feder vom ersten Entwurf bis zur endgültigen Fassung bis zu 40 mal neu, über Wochen und Monate, um der inneren Erfahrung, sie frei ergänzend, so nahe wie möglich zu kommen.

Seine dichtesten Texte hat er, mit einer von Sprachzweifel diktierten Genauigkeit, über die finstere Jugend in Frohburg geschrieben, den unfrohen Ort seiner Ängste, den er zugleich hasste und liebte - gruselige Idyllen, in denen ein blutiges Sonntagsfleisch undefinierbarer Herkunft unter der Sauce auftaucht und der Dorfplatz noch voller Spuren jüngst begangener Gewalttaten ist. Auch das hier vorgestellte Gedicht ruft den Ort Frohburg ins Gedächtnis zurück und mit ihm das Gefühl absoluter Verlassenheit. Das "fremde Kind" scheint ungeliebt, wie ohne Geschwister und Eltern; aus deren "enger Höhle", heißt es einmal, zieht ein "scharfer Geruch durch die Wohnung". Die düsteren Häuser sind, vermutlich der Flüchtlinge wegen, "überfüllt", es ist bitterkalt. Alle Beziehungen sind anonym: "Man" sitzt zu Hause, "jemand" sagt etwas, "es" ertrinkt "wieder einer" im Fluss. Doch keiner eilt zu Hilfe oder schaut wenigstens nach. Auch auf die Fragen des Kindes reagieren die Anwesenden gleichgültig und erzählen Gruselgeschichten. Das "fremde Kind" sitzt am Küchentisch dabei und scheint gleichzeitig als lyrisches Ich von außen, aus größter Distanz, hereinzublicken - Nähe und Ferne in eins.

Die Landschaften Vespers zeigen fast alle ein "Wintergesicht". Keiner hat die prägenden Erfahrungen der Nachkriegsgeneration - Armut, Kälte, Verlorensein, aber auch die Sehnsucht nach Wärme - so inständig wie dieser Lyriker ausgedrückt. Der besessene Spracharbeiter und Wahrheitssucher, Kindheitsforscher und Heimatarchäologe wird am 28. Mai 60 Jahre alt. In den letzten Jahren ist es stiller um ihn geworden, als passte seine Kargheit nicht mehr so recht in die lärmende Zeit.

Guntram Vesper wurde 1941 im sächsischen Frohburg geboren. Er lebt heute als freier Schriftsteller vorwiegend in Göttingen. Das vorgestellte Gedicht stammt aus dem Band Die Inseln im Mittelmeer, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1984.

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