In der Zeitschrift Volltext erinnert Gunther Nickel an den weithin vergessenen Schriftsteller, Bildhauer und Maler Ernst Penzoldt, der 1892 in Erlangen zur Welt kam und 1955 in München starb. Man kennt ihn allenfalls noch als Verfasser des Schelmenromans Die Powenzbande. Nickels Aufmerksamkeit gilt indes Penzoldts Roman Der arme Chatterton von 1928. Erzählt wird darin die noch heute bewegende Lebensgeschichte eines Wunderkinds und pubertären Genies, die auch Hans Henny Jahnn 1955 zu einem Theaterstück inspiriert hat. Sie ist keineswegs erfunden. Thomas Chatterton, 1752 als Sohn eines Küsters in Bristol geboren, machte mit 16 Jahren auf sich aufmerksam, weil er erstaunliche Gedichte eines Mönchs aus dem 15. Jahrhundert namens Thomas Rowley entdeckt zu haben vorgab. Als wenig später herauskam, dass die auf alt getrimmten Gedichte von ihm selbst stammten, also Fälschungen waren, nahm er sich das Leben.
Bald jedoch fand Chattertons poetische Erfindungskraft Bewunderer, und er avancierte zu einer Ikone der Romantik. Keats etwa widmete ihm ein emphatisches Sonett. Auch Penzoldts Roman ist, so Nickel, von verklärenden Zügen nicht ganz frei; aber er schildert auch die sozialen Missstände der Zeit: Weil Chatterton arm ist, weil ihm vor allem die Anerkennung als Dichter versagt bleibt, flüchtet er sich in die Literatur des Mittelalters und schlägt dabei immer tollere Kapriolen.
Der 1967 geborene Autor Thomas Lang geht in den jüngsten Volltext-Ausgaben ebenfalls einer seltsamen Tätigkeit nach. Er "überschreibt" nämlich Werke der Literaturgeschichte. In der Januarnummer hat er sich eine frühe, ziemlich unbekannte Erzählung von Friedrich Hebbel, Eine Nacht im Jägerhause (von 1836) vorgeknöpft. Das sieht praktisch so aus, dass Lang Hebbels etwas gruselige, aber sehr moralische Geschichte fast wörtlich übernimmt. Nur an einigen Stellen sind bewusst abgehobene, übertreibende Stifter-Zitate eingebaut. Und aus einem "berüchtigten Mörder" wird ein "berühmter Dichter", an einem Beil klebt Tinte statt Blut ... Unter "überschreiben" stelle ich mir etwas anderes vor, nämlich einen substantiell neuen Text, der mit dem darunter liegenden auf erhellende Weise korrespondiert. Langs Methode ist weder witzig noch erkenntnisfördernd, sondern geistiger Diebstahl zu Hebbels Lasten.
Zu den erstaunlichsten Blättern in den mit Alternativzeitschriften reich bestückten achtziger Jahren zählte Falk. Diese Loosen Blätter für alles Mögliche (so der Untertitel) erschienen zwischen 1984 und 1987 einmal im Monat für drei Mark in der "Head Farm Odisheim", meist 36 Seiten stark, fotokopiert und mit Klammern geheftet, von wechselnden Redakteuren betreut - ein Medium, in dem(damals) Neues wie etwa Ökologie auf überraschende Art Gestalt annahm und scheinbar Vergangenes reaktualisiert wurde. Die Auflage von 300 Exemplaren war mehr als bescheiden, die Themenvielfalt indes groß. Sie spannte sich von "Bioregionalismus", Buddhismus und Ethnopoesie über Texte unbekannter Dichter und einige Autorenhefte bis zu Walt Whitmans Tagebüchern, Hölderlins Wahnsinnsgedichten und einer Dokumentation über Rainer Maria Gerhardts verschüttetes Werk und seine in die Zukunft weisende Zeitschrift fragmente.
Mittelpunkt und eigentlicher Macher von Falk war unbestritten der Dichter, Literaturkritiker und Musiktheoretiker Helmut Salzinger alias Jonas Überohr, der aus dem offiziellen Betrieb ausgestiegen war und im norddeutschen Flachland ein Netzwerk der Gegenkultur, der "hedonistischen Internationale" aufzog. 1987 stellte Falk mit Nummer 36 sein Erscheinen ein, es folgten allerdings noch diverse SonderFalks.
Caroline Hartge und Ralf Zühlke haben nun unter dem Titel querFalk eine umfangreiche Dokumentation erstellt. Eigentlich sollten die Beziehungen zwischen Falk und anderen subkulturellen Organen nachgezeichnet werden, doch herausgekommen ist eher ein Buch über den 1993 gestorbenen Helmut Salzinger und seinen beträchtlichen Einfluss auf jüngere Autoren der deutschen Beat-Generation.
Sämtliche Ausgaben von Falk (einschließlich der Sonderkopien, der Krähen Blätter und so weiter) werden detailliert beschrieben. Hinzu treten Beiträge von Autoren, die eine Zeit lang an der "Head Farm" und dem dort herrschenden Lebensgefühl teil hatten, wobei leider Stefan Hyner, Jörg Burkhard und Arnfrid Astel fehlen. Für mich, schreibt Hadayatullah Hübsch, war Falk "eine begierig erwartete Flaschenpost aus dem Jenseits des Medienwahnsinns".
Volltext Heft 1, 2008 (Lothringer Straße 3, A-1010 Wien), 2,50 EUR
querFalk Buch über eine Zeitschrift (Verlag Peter Engstler, Oberwaldbehrungen 10, 97645 Ostheim/Rhön), 17 EUR
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