Fragesingend, antwortsagend

Textgalerie Kolumne

Die Schatten der Kindheit liegen schwer über Peter Härtlings Lebenswerk. Der vielseitige und enorm produktive Autor wurde 1933 in Chemnitz geboren und wohnte ab 1941 im mährischen Olmütz. Auf der Flucht 1945 geriet die Familie nach Zwettl in Niederösterreich, wo der Vater in einem Kriegsgefangenenlager umkam, und landete schließlich1946 in Nürtingen am Neckar, wo die verzweifelte Mutter sich das Leben nahm. Der so jäh vertriebene und verwaiste Junge hat sich in der schwäbischen Kleinstadt, in der auch Hölderlin aufgewachsen ist, als Fremdling empfunden, als einer, der nicht "willkommen" ist. Kein Wunder, dass er sich zeitlebens den Außenseitern, Sonderlingen und Wanderern unter den Künstlern verwandt fühlte, neben Hölderlin vor allem Waiblinger, Mörike, Lenau, Robert Schumann und dem Franz Schubert der Winterreise"

Doch über das Schreiben und die Beschäftigung mit der schwäbischen Dichtung dürfte Härtling im fremden Terrain auch ein wenig heimisch geworden sein, ja, er hat sich, zumindest für Außenstehende, fast in einen Schwaben verwandelt, einen der besten Kenner von Landschaft und regionaler Kultur. Sein Bemühen um die schwäbisch-süddeutsche Dichtung musste ihn irgendwann zu Christian Wagner führen. Der 1835 in Warmbronn bei Stuttgart geborene (und dort 1918 gestorbene) Dorfpoet und Kleinbauer veröffentlichte mit 50 Jahren sein erstes Buch. Tags auf dem Feld und im Stall tätig, las und schrieb er bei Nacht, ein Grübler, Deuter und selbsternannter Prophet, beherrscht von dem Glauben, in jeder Kreatur walte eine Seele, die einmal eine Menschenseele gewesen sein könnte: "Kannst du wissen, ob von deinem Hauche / Nicht Atome sind am Rosenstrauche?" Folglich sprach er wie der Heilige Franziskus zu Tieren und Pflanzen, er jätete kein Unkraut und schlachtete sein Vieh nicht.

Wagner hat einige anrührende Gedichte geschrieben, die sich den Erscheinungen der Natur - einem Falter, einer Blume - mit Andacht nähern und so zu einer ganz eigenen Sprache finden, daneben aber auch viel Glaubensdeklamation und leere Reimerei. Vor allem seiner großen Naturgedichte wegen haben sich bedeutende Schriftsteller, von Hermann Hesse bis Peter Handke, für den Ekstatiker ("Götter müssen wir werden!") eingesetzt, dessen "großartiger Glanz in den Augen" schon den jungen Gustav Landauer beeindruckt hat.

Mit dem hier vorgestellten Gedicht reihte sich Peter Härtling um 1985 in den Kreis der Bewunderer des "Bauerndichters" ein. Der sitzt allein in seiner kargen Stube, die er frisch "geweißnet", also getüncht hat. Körperliche wie geistige Arbeit sind getan, "alle" Sätze ausgeschickt in eine windstille Märchenwelt, die hermetisch abgedichtet erscheint. Wo befinden sich Frau und Kinder? Und was sind das für ausgeschickte "Sätze" Botschaften vielleicht oder eher Fragen, die wie er selbst "Antworten" hervorrufen, die der buddhahaft Dahockende nur noch "einsammeln" und magisch "unter die Türschwelle legen" muss, wo sie geheimnisvoll weiterwirken; Glücksmomente der Sprache, Verse von biblischer Einfachheit wie die Härtlings. In seiner Glaubensgewissheit sind dem Dichter "alle" Antworten "willkommen", er kennt sie wohl schon im voraus, hat sie selbst unterm engen Himmelszelt formuliert. In seinem Buch Neuer Glaube (1894) hat Christian Wagner, zwischen Frage und Antwort wechselnd, sein Evangelium der Schonung alles Lebendigen zusammengefasst: "fragesingend, antwortsagend".



Peter Härtling

Christian Wagner in seinem Haus

Die Stube geweißnet,
die Sätze ausgeschickt, alle,
die Geiß gemolken,
den Himmel übers Haus gespannt,
jetzt
kann er die Antworten
einsammeln
und unter die Türschwelle
legen:
Ihr seid alle
willkommen.

Peter Härtling, geboren 1933 in Chemnitz, lebt heute im hessischen Mörfelden-Walldorf. Das vorgestellte Gedicht stammt das dem Band Die Mörsisnger Pappel, Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt a. M. 1986.


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