Hart erarbeitet, glücklich verheiratet

Zeitschriftenschau Kolumne

Die horen haben ihr Winterheft Oskar Pastior gewidmet, dem "Sprachzauberer", der Anfang Oktober 2006, kurz vor der Verleihung des Georg Büchner-Preises an ihn, bei Freunden in Frankfurt, auf dem Sofa sitzend, gestorben ist, fast 79 Jahre alt. Seine Poetenfreunde haben Gedichte und Erinnerungstexte beigesteuert; Herbert Wiesners Nachruf eröffnet den rühmenden Reigen, Klaus Reicherts Totenrede beschließt ihn. Beide erwähnen Pastiors siebenbürgische Herkunft, die fünf Jahre Zwangsarbeit in der Sowjetunion und das anschließende Leben in der rumänischen Diktatur als prägend. Möglicherweise führt von dort auch eine Brücke zu den "Zwangssystemen seiner Texte", wie Reichert vermutet, zu einem experimentellen Schreiben nach immer strengeren Regeln und restriktiveren Techniken. Pastior habe seine Gedichte "nicht einfach ›entstehen‹ lassen", so Wiesner, sondern "gegen einen selbst gewählten formalen Widerstand" hart erarbeitet. Der viel gerühmte "musikalische Reiz" seiner Texte, die schwebende Leichtigkeit, die besonders beim öffentlichen Vortrag bezauberte, das Spiel mit Buchstaben, Silben, Wörtern, Klängen und Bildern, verdankte sich äußerster Sprachanstrengung.

1968 gelang Pastior der Übertritt in die Bundesrepublik, wo sein zweites, so erfolgreiches Leben begann. Isolde Ohlbaum hat ein Oskar Pastior-Album mit Porträts aus den zurückliegenden 30 Jahren zusammengestellt, auch eine Art Entwicklungsgeschichte.

Ein weiterer Schwerpunkt im aktuellen horen-Band gilt dem vor zehn Jahren gestorbenen Helmut Heißenbüttel. Dieser Autor bringe - so Nicole Henneberg, die für die Auswahl der Texte verantwortlich ist - "im Gedicht wie im Essay das Kunststück fertig, schlüssige und strenge Sätze zu formulieren, die gleichzeitig völlig offen sind - als wären sie ein Gebäude von Mies van der Rohe." Auch über die Verwandtschaft von Text und Bild hat Heißenbüttel, im Kontext der konkreten Poesie, nachgedacht, und er hat selbst eindrucksvolle serielle Photos gemacht.

Jörg Drews erinnert an einen einarmigen Mann namens Heißenbüttel, den er als Student 1960 in München zum ersten Mal mit leiser Stimme Texte vortragen gehört habe, die wenig später in dem Band Textbuch 1 standen: "Sowas hatte ich noch nie gehört, das haute mir das ganze spät- oder postbennsche System auseinander." Das Gehörte machte auf Drews "den größten Eindruck von Lakonik und Modernität" und "entgrenzte alle unsere Vorstellungen von Texttypen und Gattungen." Verglichen mit dem, was bei Heißenbüttel, bei Franz Mon und Eugen Gomringer, auch bei Reinhard Prießnitz und Ernst Jandl an literarisch Neuem damals bereits realisiert war, kommt ihm vieles in der gegenwärtigen Literatur (und ihrer Kritik) "geschwätzig, regrediert, rekonventionalisiert" vor.

Der erstaunlichste Text im vorliegenden horen-Heft ist ein Interview, das Hanne Kulessa 1987 für das inzwischen eingestellte FAZ-Magazin mit Wolfgang Koeppen geführt hat (er wäre 2006 hundert Jahre alt geworden). Hanne Kulessa fragte damals munter drauflos, und der greise Koeppen antwortete launig-vergnügt auf die heikelsten Fragen, um anschließend seine Antworten wieder aus dem Manuskript zu streichen und das ganze Gespräch verharmlosend umzuschreiben. In dieser Form erschien es dann in der FAZ. Jetzt erst, zwanzig Jahre später, lesen wir in den horen die ursprüngliche Fassung.

Koeppen berichtet darin freimütig von seinem erotischen Interesse an jungen Mädchen, von seiner Frau Marion, die 16 war, als er sie mir 38 Jahren kennen lernte; von ihrem Alkoholismus und ihrem Hass auf seine Arbeit, die Schriftstellerei, insistiert jedoch darauf, "glücklich verheiratet" gewesen zu sein. Er erzählt auch von seinem Vater, der sich nie um ihn gekümmert und der Mutter schäbig geringe Alimente gezahlt habe; ein Augenarzt aus Greifswald und erfolgreicher Ballonfahrer. Koeppen hat ihn später einmal, als Patient getarnt, in seiner Praxis aufgesucht, ohne sich zu offenbaren, und will danach nie mehr ein Wort mit ihm gesprochen haben. Wären das nicht gleich zwei Themen für den von Siegfried Unseld mehr als 30 Jahre lang erwarteten, mehrfach angekündigten "großen Roman" gewesen?

Weiterhin schreiben in dem reichhaltigen Heft zum Beispiel Thomas Schaefer über den beinahe verstummten Guntram Vesper, Henning Ziebritzki über Hugo Dittberners Gedichte und Hans-Jürgen Heise über den großen Samuel Beckett, der im vergangenen Jahr wie Koeppen hundert wurde. Ulla Hahn gratuliert Christa Reinig zum 80. Geburtstag.

die horen: Nr. 224, 2006 (Postfach 10 11 10, 27511 Bremerhaven), 14 EUR


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden