Im Weinberg

Textgalerie Kolumne

Im Juni 2007 wurde anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Künstlerhauses Edenkoben in dessen unmittelbarer Nähe ein "Weg der Gedichte" eingeweiht. Er führt etwa zwei Kilometer durch pfälzische Weinberge und ist vorerst mit zehn auf Tafeln geschriebenen Gedichten lebender Lyriker bestückt, die alle etwas mit der im Künstlerhaus seit 1987 geleisteten (Übersetzungs-)Arbeit verbindet, darunter, Eigenes mit Fremdem mischend, Texte von Jacques Roubaud und Walter Helmut Fritz.

Bereits im vorausgehenden Winter war ich damit beauftragt, die Positionen zu bestimmen, an denen Gedichttafeln aufgestellt werden könnten, wobei ich mich bemühte, Verdoppelungen zu vermeiden, also ein von der Mandelblüte sprechendes Poem nicht gerade vor einem Mandelbäumchen zu plazieren. Allerdings gibt es seit der letzten "Flurbereinigung" in den begradigten Weinbergen kaum noch zu bedichtende Bäume oder Trockenmauern, da sie die gewaltigen Erntefahrzeuge behindern würden.

Nur ein einziger alter Obstbaum stand noch im winterkahlen Feld, und genau in seine Nähe rückte ich das hier vorgestellte Gedicht, wobei ich hoffte, er möge kein Birnbaum sein. Doch als wir dann an jenem sonnigen Junitag, von zahlreichen Wanderern begleitet, in seinen Schatten traten, war es unverkennbar ein Birnbaum. Brigitte Struzyk trug das Gedicht Rundgang so vor, als hätte sie schon bei der Wahl des Titels an den künftigen "Weg der Gedichte" gedacht. Und sie ergänzte, eben diesen von mir ausgesuchten Birnbaum hätte sie beim Schreiben des Gedichts im Herbst 1994 vor Augen gehabt.

Wie dem auch sei - das knappe, konzentrierte, streng rhythmisierte Poem, das einmal mehr die Nähe von Gehen und Dichten beleuchtet, stellt eine Art Kontrafaktur zu Hölderlins spätem Gedicht Hälfte des Lebens dar. Es zitiert oder besser: variiert ein paar Kernworte daraus (Birnen, o weh, trunken, halbe/halbe), kann sich jedoch durchaus eigenständig neben dem berühmten Vorbild behaupten. Aus dem "See" Hölderlins ist ein trunken machendes Rebenmeer geworden. Eine schöne Ruhe geht von Struzyks Zwölfzeiler aus, der eigentlich keiner topographischen Rückbindung bedarf. Die einzelnen Dinge erscheinen im Glanz des Frühherbsts anschaulich vor uns und stehen zugleich symbolisch an der Grenze von "Leben" und "Tod", wie auch der durchschrittene "Weinberg" ein schlicht alltäglicher und ebenso ein metaphorischer ist. Der "Weinberg" wie der "trunkene Dichter" sind gewissermaßen Topoi der abendländischen Literatur.

Auch in anderen Texten spielt Brigitte Struzyk auf Hölderlin an. Die in Thüringen aufgewachsene Autorin hat Theaterwissenschaft studiert und in der DDR als Dramaturgin und Verlagslektorin gearbeitet. Eine immanente Kritik an den Verhältnissen "in diesem kälteren Land" durchzieht ihre kurzen, meist reimlosen Gedichte, die von kleinen Begebenheiten des Alltags handeln. Nach dem Sturz der Mauer fiel es Brigitte Struzyk schwerer, die angestammte Rolle der "phantasievollen, unangepaßten Frau" weiterzuspielen. Der gelegentlich schnoddrige Ton ("sich dünne machen"), surreal überdrehte Bilder ("Er klaut die Sterne / mit der Zuckerzange"), Wortspiele und Kalauer verloren an Reiz; es gab plötzlich kaum noch Reibungsflächen. Bestimmte Anspielungen wurden gar nicht mehr verstanden.

Das vorgestellte Gedicht, das im Herbst 1994 nach einem deutsch-italienischen Lyrikertreffen im Künstlerhaus Edenkoben entstand, ist über solche Beschränkungen erhaben, indem es sich souverän und sogar mit einem gewissen Pathos ("Ich aber ging ...") in die große lyrische Tradition einreiht.

Brigitte Struzyk wurde 1946 in Steinbach-Hallenberg (Thüringen) geboren. Sie lebt seit langem in Berlin. Das vorgestellte Gedicht stammt aus der von Gregor Laschen herausgegebenen Anthologie Vom Ohrenbeben zu Edenkoben, Heidelberg 2007.


Brigitte Struzyk

Rundgang

Ich aber ging
durch den Weinberg
Ich ging
wo die Birnen
am Wegrand
o weh
wo sie lagen
und dachte an ihn
ob er getrunken hat
ob er trunken war
vom Leben vom Tod
halbe/halbe

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