Karikatur des Willens

Zeitschriftenschau Kolumne

"Dekadenz" wird seit eh und je beklagt, schon von altägyptischen Priestern, griechischen und römischen Denkern. Das Wort "dekadent" ist in seiner Bedeutung gar nicht weit vom verbotenen Wort "entartet" entfernt. In den letzten Jahren taucht der Dekadenzvorwurf wieder massiv auf. Er richtet sich gegen die liberalen westlichen Demokratien und wird nicht nur von islamischen Fundamentalisten, sondern auch von einheimischen Kulturkritikern erhoben. Die Zeitschrift Merkur fragt in ihrem aktuellen Doppelheft, was es damit auf sich hat.

Ausgehend von Tagesereignissen in England und Deutschland äußert Karl Heinz Bohrer den Verdacht, dass unsere Gesellschaften zu dekadent geworden sind, um sich selbst zu verteidigen. Traditionelle Werte wie Mut, Selbstbeherrschung und Takt seien "von einer Welle vulgärer Verhaltensweisen weggeschwemmt worden." Es dominiere eine durch die Medien angeheizte Tyrannei des Obszönen und Privaten.

Auf Deutschland gemünzt, spricht Bohrer von "schlaffer Bescheidenheit", besonders im Geistigen, und "Selbstverleugnung". Es bestehe fast ein Einvernehmen darüber, "an bestimmten, notwendig aggressiven Formen der Politik überhaupt nicht mehr teilzunehmen, wenn möglich sogar aus der Politik ganz auszutreten." So reduziere sich Politik auf Sozialhilfe.

Der "Verlust an Willen" äußere sich auch im Alltag als "Sich-gehen-Lassen", öffentliche Formlosigkeit, und breite sich in allen Schichten und auf allen Plätzen aus. Ein Beispiel wäre die Umfunktionierung der Bahnhöfe zu hässlichen Einkaufs- und Fressorten.

Dem "Verrat der Intellektuellen" und ihrem Haß auf die eigene Gesellschaft widmet sich (ebenfalls im Merkur) Siegfried Kohlhammer. Kein anderes Sozialsystem habe die Intellektuellen so gefördert und geschützt wie die westliche Moderne. Und doch vertrat ein erheblicher Teil von ihnen eine Art Fundamentalopposition selbst gegenüber Momenten des Westens, die "Voraussetzungen ihrer gesichterten Existenz" waren, etwa dem Eigentum, dem Recht und sogar der zeitweise als "repressiv" geschmähten Toleranz gegenüber.

Nach dem Entstehen totalitärer Regime im 20. Jahrhundert verband sich diese Totalopposition gegen die eigene Gesellschaft mit einer Parteinahme für deren erklärte Feinde - für Gesellschaften also, in denen, so Kohlhammer, den Intellektuellen entscheidende Existenzbedingungen verwehrt waren. Viele verhielten sich unterwürfig gegenüber stalinistischen Parteien und tyrannischen Regierungen und traten Pilgerreisen in die Neuen Jerusalems an: in die Sowjetunion, nach China, Kuba, Kambodscha. Was ihnen der Kommunismus brachte, war vermutlich ein die ganze Gesellschaft durchdringender "Sinn", der so etwas wie "Gemeinschaft" schuf und die zahllosen Toten auf dem Weg nach Utopia zu legitimieren schien. Selbst der Zusammenbruch des Ostblocks war für viele kein Grund, den Glauben an den Sozialismus aufzugeben - auch ein Dekadenzphänomen?

Dass die Vergabe des Heinrich Mann-Preises der Berliner Akademie der Künste an den Essayisten Karl Heinz Bohrer für manche eine Provokation darstellen könnte, war dem Laudator Gustav Seibt durchaus bewusst. In seiner brillanten Rede (nachzulesen im letzten Heft von Sinn und Form) weist er gleich zu Anfang auf "eine gewisse Spannung" hin, die zwischen dem Namensgeber und dem Geehrten herrsche. Während für den engagierten Intellektuellen Heinrich Mann die Literatur zum gesellschaftlich Guten und Friedvollen beitrage, präferiere Bohrer die Außenseiter und Selbstmörder, Dandys und Abenteurer: Kleist und Kafka, Baudelaire und Breton, Ernst Jünger und Rolf Dieter Brinkmann. Der vom "Bösen" und der "Gewalt" nicht nur in der Poesie faszinierte Bohrer ist eben alles andere als ein Pazifist. Dennoch meint Seibt am Ende - das muss wohl bei solchen Anlässen so sein -, ein Heinrich Mann wie Bohrer "gemeinsames literarisches Terrain" in ihrer Neigung zur politischen Karikatur (man denke an Professor Unrat) ausgemacht zu haben.

Merkur: Heft 8/9, August/September 2007 (Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 19 EUR

Sinn und Form: Heft 4, 2007 (Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9 EUR


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