Nachtbruder

Biografie Michael Opitz meidet die Abgründe im Leben des rätselhaften und dämonischen Wolfgang Hilbig
Ausgabe 02/2018

Wolfgang Hilbig war ein in vieler Hinsicht rätselhafter Dichter. Zehn Jahre nach seinem Tod hat Michael Opitz die erste Biografie vorgelegt. Fast 50 Archivkästen des Nachlasses und die Hilbig-Sammlung der Berliner Akademie der Künste hat der Literaturwissenschaftler durchforstet, viele unveröffentlichte Manuskripte und Briefe ausgewertet. Leider unberücksichtigt blieb beim Verfassen der Biografie der Essay Der Gottesbeweis von Natascha Wodin von 2008. Wodin, die mit Hilbig dreizehn Jahre zusammengelebt hat, stellt hier die Kernfrage: Woher hatte dieser „unter Sprachlosen“ Aufgewachsene die poetische Sprache? Er konnte sie, so ihre Antwort, „nicht in der Umgebung gelernt haben, aus der er kam“, denn dort sei ihm „nie etwas anderes zu Ohren gekommen als der sächsische Dialekt der Arbeiterklasse und das von wüsten polnischen Flüchen zerhackte Deutsch seines aus Polen stammenden Großvaters, der der Schrift nicht mächtig war.“

Opitz weiß auf diese Frage keine Antwort, er stellt sie auch nur indirekt, umgeht sie eher und konzentriert sich auf eine akribische, weithin chronologische Darstellung des Werks, darunter erstaunlich viele noch unbekannte Texte. Dabei ist er bemüht, die reale Lebensgeschichte des gelernten Bohrwerkdrehers und späteren Heizers mit den Biografien der Helden seiner Erzählungen möglichst eng zu verzahnen. Das ist ein Verfahren, das nicht unproblematisch ist, selbst wenn man davon ausgeht, dass die Arbeiten Hilbigs autobiografisch grundiert sind. Der späte Aufstieg des 1941, mitten im Krieg, im thüringischen Kohlegebiet von Meuselwitz geborenen Arbeiterjungen zum „Weltliteraten“, der krumme Weg des Heizers zum Georg-Büchner-Preisträger wird von Opitz in sechs Arbeitsschritten nachgestellt.

Hilbig entstammte einem dumpfen, gewalttätigen Milieu. Der Vater, ein Autoschlosser, fiel Anfang 1943 bei Stalingrad; Hilbig hat ihn nicht kennengelernt. Die überforderte Mutter schlug den Sohn mit einer eisernen Schöpfkelle auf den Kopf, der Großvater, ein cholerischer versoffener Bergarbeiter, verbreitete nichts als Schrecken im Haus. Doch der Kontakt zur Mutter, mit der er fast vierzig Jahre die Wohnung teilte, brach nie ab. Lange Zeit schlief er neben ihr im Ehebett, später kam er neben den unheimlichen Großvater zu liegen. Das Leben in der Bergarbeitersiedlung bot dem Schlüsselkind aber auch Vorteile, etwa die Freiheit, endlos umherzustreunen in den Braunkohlewäldern einer vom Tagebau zerstörten Landschaft. Er wuchs zwischen Ruinen auf. Seine Poetik hat sich gewissermaßen aus der Asche entwickelt. Er hat als Kind auf und mit Asche gespielt, als Heizer Asche produziert und geschmeckt. Ob er dabei immer an die deutsche Schuld und die Öfen von Auschwitz gedacht hat, wie Opitz nahelegt, ist zumindest fraglich.

Heimlich las er Tieck

1956, nach dem Abschluss der 8. Klasse, verließ Hilbig die Volksschule und begann eine Lehre in der Maschinenfabrik. Heimlich schrieb er Abenteuer- und Gespenstergeschichten, las Hoffmann, Tieck, Chamisso, seine ersten prägenden Vorbilder, von denen er auch das Doppelgänger-Motiv, die Aufspaltung der eigenen Person, hat. Weder in der Schule noch bei der Nationalen Volksarmee oder in der Fabrik konnte der Einzelgänger sich einfügen. Überall bekam er Schwierigkeiten. Aber er boxte und turnte erfolgreich im Verein „Motor Meuselwitz“. Diese Stadt hat ihn geformt, hier hat er Wurzeln geschlagen. Doch zugleich fühlte er sich „abwesend“, heimatlos und ungebraucht. Das Fragment gebliebene Langgedicht prosa meiner heimatstraße, einer „Straße des Schreckens, der ich nie entkam“, ist hier angesiedelt. Zu Recht sieht Opitz in diesem Text den „Gipfelpunkt“ von Hilbigs Lyrik, die „Essenz“ seines Werks. Nach der Entlassung aus der Armee arbeitet Hilbig wieder als Werkzeugmacher, ab 1970 dann für zehn Jahre als Heizer. Seine am Pausentisch des Kesselhauses entstandenen Gedichte schickt er an ost- und westdeutsche Verlage. Er erntet überall Absagen. Doch er glaubt an sich, sucht weiter nach einer neuen Sprache mit einer eigenen Grammatik, in der das Wort eine besondere, magische Bedeutung gewinnt. 1977 ist Hilbigs Stimme zum ersten Mal mit zwölf Gedichten in der Sendung Transit – Kultur in der DDR des Hessischen Rundfunks zu hören – Beginn einer steilen Karriere im Westen und Abgesang auf die DDR und das trostlose Leben im sogenannten Sozialismus. Hilbig bekam so Kontakt zum S. Fischer Verlag, wo 1979 sein erster Gedichtband abwesenheit erschien.

Vergebens hatte die Stasi, hatte sogar das Kulturministerium versucht, das Erscheinen des Buches zu verhindern. Grotesk mutet im Nachhinein der destruktive Aufwand an, den man betrieb; und wie wichtig man im anderen Teil Deutschlands die Literaten nahm, die man gleichzeitig verachtete. 1985 darf Hilbig ausreisen. Er lernt Wodin kennen und zieht mit ihr zunächst nach Nürnberg , 1988 dann für sechs Jahre nach Edenkoben, wo beide im dortigen Künstlerhaus ein Stipendium wahrnehmen – eine äußerst produktive und relativ ruhige Lebensphase in der pfälzischen Idylle. Hilbig stellt hier das Trinken ein. Es entstehen die Romane Eine Übertragung (1989), das Opus magnum Alte Abdeckerei (1991) und der auch ökonomisch erfolgreiche Stasi-Roman Ich (1993). Im September 1994 zieht er in den Osten Berlins, auf den Prenzlauer Berg. Er trennte sich von Wodin, begann wieder zu trinken und lebte weitgehend isoliert. Seine Produktivität erlahmte, die Geschichten gingen ihm aus. Sein Verstummen könnte etwas zu tun haben mit dem Verschwinden der DDR, dem (ungeliebten) Nährboden seiner Dichtung (jedoch kaum mit dem 11. September 2001, wie Opitz annimmt). 2001 erschien sein letzter Gedichtband Bilder vom Erzählen. Alles in diesem Werk weist auf Abschied hin, eine letzte Fahrt durch die Wunder der Poesie, begleitet von Hölderlin, Poe, Rimbaud: „Nun fällt die Nacht: die Zeit die dauernd endet …“ Im Februar 2007 wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert, an der Hilbig vier Monate später starb.

Wolfgang Hilbig war ein sprachsüchtiges „Genie“, auch wenn dieser Begriff im Zeitalter akademischer Schreibkurse nicht gern gehört wird, ein Dichter höllischer Visionen in der Tradition Trakls, Baudelaires, Kafkas und Becketts, der das Pathos, den hohen Ton bevorzugte. Er war auch ein „Dämon“ (so nennt ihn Wodin in ihrem Schlüsselroman Nachtgeschwister), gefährlich jähzornig und „maßlos in allem“, ein „Irrer“, der sie niederschlug und mit dem Messer durch die Weinberge verfolgte, ein Besessener, der bei Nacht schrieb und tagsüber schlief und sich sonst um kaum etwas kümmerte; ein „Psychopath“, dessen „Irrsinn durch den Wechsel der Welten eskaliert“ war. Das Doppelbödige und Extreme seines Charakters, seine Obsessionen, Selbsthass und Selbstverachtung kommen in Opitz’ Biografie nur ganz am Rand vor, als wollte der mit seinem Helden sympathisierende Autor in solche Abgründe lieber nicht eintauchen. Trotzdem hat Opitz ein im Ganzen souveränes und kenntnisreiches Buch aus der Perspektive eines in der DDR aufgewachsenen Forschers geschrieben; ein im Westen Sozialisierter hätte vermutlich andere Akzente gesetzt.

Info

Wolfgang Hilbig. Eine Biographie Michael Opitz S. Fischer Verlag 2017, 663 S. 28 €

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