Tod in Venedig oder Der Familienwurm

Melancholie In Gabriele Weingartners Roman "Fräulein Schnitzler"greift eine Frau zur Waffe

Ein Frauenschicksal in den besseren Kreisen, eine opernhafte Geschichte um Liebe, Einsamkeit und allzu frühen Tod. Am 25. Juli 1928 schießt sich die 18-jährige Lili Cappellini in Venedig eine Kugel in die Brust und stirbt einen Tag später an einer Blutvergiftung. Das an sich schon spektakuläre Ereignis erfährt dadurch eine Steigerung, dass es sich bei den beteiligten Personen um Berühmtheiten der Kulturgeschichte handelt: um Arthur Schnitzler, seine Frau Olga und die Tochter Lili (verheiratete Cappellini); am Rand treten auch Alma Mahler, Anna Freud und weitere Wiener Größen auf. Das erleichtert das Schreiben einerseits, indem jede Menge Quellenmaterial vorliegt und die Charaktere zumindest in Umrissen vorformuliert sind, erschwert es jedoch gleichzeitig, indem es die Freiheit der Erfindung einengt.

Gabriele Weingartner hat Schnitzlers Werke und Briefe sowie seine in zehn Bänden publizierten Tagebücher exzerpiert, sie hat etliche Schnitzler-Biographien und allerlei Kulturhistorisches zu Wien und Venedig im frühen 20. Jahrhundert studiert und sich vor Ort umgesehen. Allein die bislang unveröffentlichten Tagebücher Lili Schnitzlers blieben ihr verschlossen, was sich indes eher als Glücksfall erwies. Mag sich die Autorin oft bis ins Detail an das authentisch verbürgte Geschehen halten - bei der Gestaltung der Gefühle, Träume und Reflexionen ihrer Hauptfigur agiert sie unabhängig von dokumentarischen Zwängen. Hinzuerfunden dürfte auch eine Gestalt wie die unwirsche, stets unbekümmert lärmende Dienstmagd Rita sein.

So gelingt Weingartner ein psychologisch glaubwürdiges Porträt der exzentrischen Schnitzler-Tochter, die sich als 17-jährige in den erheblich älteren Arnoldo Cappellini verliebte, dem "schönen Faschisten" in seiner schmucken Uniform buchstäblich nachrannte und die Heirat gegen den Willen ihres erzliberalen Vaters auch durchsetzte (während Mutter Olga mit dem Schwiegersohn ins Bett stieg). Doch der exaltierten Verliebtheit folgte bald der Katzenjammer. Lili, "ein verzogenes und kompliziertes Kind", ist todunglücklich im fremden Land, fühlt sich von ihrem "wundervollen schwarzen Capitano" nicht mehr geachtet und geliebt und verbringt halbe Tage im Bett, ihre Alpträume memorierend. Sie ist vermutlich magersüchtig, scheint schwanger zu sein, ekelt sich jedoch vor diesem Zustand und plant eine Abtreibung bei einer Engelmacherin. Sie hat Heimweh nach Wien und ihrem Papa, nach privilegierten Gesprächen und Anerkennung. Was sie schließlich zur Pistole greifen lässt - Arnoldos "Kälte" und die gescheiterte Ehe oder eine angeborene Neigung zu Melancholie und Selbstverstümmelung - bleibt offen.

Nach Der Schneewittchensarg (1996) und Bleiweiß (2000) ist Fräulein Schnitzler Gabriele Weingartners dritter Roman. Er steht in einem besonderen Verhältnis zu ihrem Erzählungsband Die Leute aus Brody (2005), einer Sammlung von Künstlernovellen, in deren Mittelpunkt jeweils eine Randfigur der Literaturgeschichte in erlebter Rede Licht auf eine Hauptfigur wirft, etwa Felice Bauer auf Franz Kafka. Auch Fräulein Schnitzler ist in erlebter Rede, einer Vorform des inneren Monologs geschrieben und wäre - um einige larmoyante Wiederholungen gekürzt - auch als straffere Novelle denkbar.

Zehn Kapitel und ein knapper Epilog. Im sommerlich heißen Venedig, zwei Tage vor ihrem Selbstmord, rekapituliert Lili, der keiner mehr zuhört, ihr junges Leben, mit Rückblicken auf die Wiener Jahre, intelligent, hochmütig, wortgewandt - ein langes Selbstgespräch und eine einzige Klage, verspielte Jungmädchensätze dazwischen, von Ironie getragen, wenn sie etwa über ihre Opern singende Mama oder die dicke Alma Mahler lästert. Weingartner hat alles mit leichter Hand und hoher Perfektion zu Papier gebracht, mit eleganten Übergängen und vielen Einfällen, in einer etwas altertümlichen Sprache und Satzmelodie, dunkle Vorausdeutungen und Leitmotive einstreuend - ein psychologischer Realismus, der zu diesen Menschen und ihren Erfahrungen passt. Eine untergegangene Zeit der Zwischentöne, des Abwägens, der erotischen Zweideutigkeit wird sichtbar.

Arthur Schnitzler, der als erster im deutschen Sprachraum den inneren Monolog verwendet haben soll (im Jahr 1900 in der Novelle Leutnant Gustl), ist allgegenwärtig. Bereits der Titel spielt auf seine Erzählung Fräulein Else an, in welcher ebenfalls eine sehr junge, exaltierte Frau auf den eigenen Selbsttod hin monologisiert. Fräulein Else erschien 1924, vier Jahre bevor sich Lili Cappellini mit einer verrosteten Pistole erschoss, die ihr Ehemann im Weltkrieg einem toten Österreicher weggenommen hatte. Lili selbst reflektiert in ihren Monologen über Elses Schicksal und identifiziert sich streckenweise mit ihr. Sie bemerkt die Parallelen durchaus und handelt doch ähnlich "kopflos"; fast sieht es so aus, als folgte sie ihr nach. In dem Fall trüge der mit Sigmund Freud bekannte Dichtervater, dessen Geschichten so schrecklich enden, ein Stück Mitschuld am Tod der Tochter. Oder war es doch der "Familienwurm", von dem es gelegentlich heißt, er nage an allen (Liebes-)Beziehungen der Schnitzlers.

Gabriele Weingartner: Fräulein Schnitzler. Roman. Haymon, Innsbruck 2006, 248 S., 19,90 EUR


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