Achtundsechzig und noch immer kein Ende in Sicht, fast schon ein Dauerbrenner; die unterschiedlichsten Medien sind voll von Heldengeschichten. Wer einmal als 68er abgestempelt wurde, hat sein Leben lang kaum eine Chance mehr, noch als ein anderer wahrgenommen zu werden, so sehr er sich auch abstrampeln mag. Auf ungewöhnliche Art nähert sich der englische Psychiater und Publizist Theodore Dalrymple, geboren 1949 und erklärtermaßen kein 68er, im jüngsten Merkur dem Thema. Sein anrührender Essay berichtet von den "Schmerzen der Erinnerung", etwa denjenigen seiner jüdischen Mutter, die 1939 aus Deutschland nach England entkommen war.
Einleitend spricht Dalrymple über die Jugend, die hauptsächlich eine Phase der Erfahrungsarmut sei. Ihr sei es auch 1968 in Paris nicht darum gegangen, die Welt zu verbessern, sondern "einzig um Selbstmitleid". Der Flut von Büchern, die dem 40-jährigen Jubiläum der Ereignisse von 1968 gewidmet sind, könne man entnehmen, "dass die studentischen Aufrührer verwöhnte und narzisstische Kinder waren, die kalkulierte Posen für die Fotografen einnahmen". Besonders unangenehm fiel Dalrymple ein Buch mit Plakaten und Karikaturen auf: "Ich öffnete es und stieß auf eine Karikatur von de Gaulle, die sein Gesicht als eine Maske darstellte, hinter der sich sein wirkliches Gesicht verbarg: das Gesicht Hitlers. Ich knallte das Buch angewidert zu."
Ganz anders als Dalrymple, nämlich emphatisch sich der Jugendzeit in Paris erinnernd, schwärmt in Lettre International der italienische Psychoanalytiker Sergio Benvenuto von Brüderlichkeit und Libertinage, Politik und Dadaismus im Mai 68. Zwar stehe er seinen Überzeugungen von damals heute sehr fern, doch halte er an seinen Erfahrungen fest und sei deshalb noch immer ein 68er. Was aber ist ihm jenseits der politischen Inhalte geblieben? Benvenuto erwähnt die Verachtung des Reformismus und aller bürokratischen Institutionen, die Ablehnung vorgegebener Hierarchien sowie eine grimmige Antipathie gegen Heuchelei und sämtliche Konventionen. Geblieben ist ihm offenbar auch jener von Dalrymple so tief verachtete "Narzissmus der Jugend", deren exzentrisches und genußsüchtiges Flair.
Erlebt hat Sergio Benvenuto als 20-jähriger italienischer Psychologiestudent in Paris, der sich für einen Trotzkisten hielt, den Mai 68 "in einem manischen Rauschzustand". Er fühlte sich im Mittelpunkt der Welt und hatte den Eindruck, dass sich "endlich alles bewegte" - die Politik, die Kunst, die französischen Meisterdenker von Sartre bis Foucault, das Theater: "Uns schien alles möglich zu sein." Zumal der radikale Jugendprotest nicht das Resultat einer ökonomischen Krise, sondern eher "der Widerhall einer euphorischen Prosperität" eines Teils von Europa war.
Im Mittelpunkt des jüngsten Hefts der Akzente steht die aus dem rumänischen Banat stammende Dichterin Herta Müller. Mit ihren Vorfahren teilt sie das Trauma der Deportation. Im Januar 1945 wurden sämtliche Angehörige der deutschen Minderheit im Alter zwischen 17 und 45 Jahren, darunter auch Herta Müllers Mutter, zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Viele verhungerten und erfroren. Unter dem Diktator Ceausescu war das Thema tabu.
In der Absicht, einen Roman über diese Deportation zu schreiben, begann Herta Müller 2001, Gespräche mit ehemaligen Verschleppten aus ihrem Dorf aufzuzeichnen. Auch der siebenbürgische Dichter Oskar Pastior, der fünf Jahre lang deportiert war, wollte ihr mit seinen Lagererfahrungen helfen. Er erzählte und sie schrieb es auf, lauter poetische Details, kleine absurde Sätze, etwa: "Der Zement und der Hungerengel sind Komplizen. Der Hunger reißt die Poren auf und kriecht hinein, und wenn er drin ist, klebt der Zement sie zu. Und man ist für immer zementiert." Bald begannen Pastior und Müller auch, "im Aufschreiben zu erfinden". Als Oskar Pastior im Oktober 2006 starb, lagen vier Hefte voller handschriftlicher Notizen vor. Herta Müller entschied sich, den Roman allein weiterzuschreiben und gab ihm den Titel Atemschaukel, ein Wort von Oskar Pastior.
Im Gespräch mit Carlos Aguilera betont Herta Müller, sie könne fiktional schreiben, also erfinden "nur aufgrund des Erlebten, der Erfahrung" (etwa der Lagerhaft, des Polizeiverhörs oder der Arbeit in den maroden Fabriken Rumäniens). Literatur sei "etwas total Künstliches", und das müsse sie auch sein, gerade um Realitäten wie die Kaputtheit der Menschen, ihre Verzweiflung und ihr Unglück einzufangen. Diese "Chronistin des Alltags" ist alles andere als eine Anhängerin der Utopie: "Wenn Utopien Wirklichkeit werden, sind sie meistens schrecklich."
Merkur Heft 11, November 2008 (Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 11 EUR
Lettre International Nr. 82, Herbst 2008 (Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11 EUR
Akzente Heft 5, Oktober 2008 (Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.