Der wahre Übersetzer, meint Novalis, "muss in der Tat der Künstler selbst sein, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muss der Dichter des Dichters sein." Friedhelm Kemp hingegen definiert Übersetzung als "Annäherung, Umkreisung. Sie verweist, sie beleuchtet, sie erhellt (sie verdunkelt); sie knittert, sie kerbt, sie glättet (leider); sie umstellt, umzingelt, erobert. Sie agiert, sie mimt das Gedicht. Selten, dass sie es einholt; obwohl sie es bisweilen überflügelt." Am Ende, so Novalis, "ist alle Poesie Übersetzung".
Sätze wie diese stehen als Motti über der neuesten, 218. Ausgabe der horen, die vom literarischen Übersetzen handelt, ein 288 Seiten starker Band, der das Thema, auch dank Zsuzsanna Gahse, der Herausgeberin, von allen Seiten beleuchtet, beginnend mit dem Problem der Wörter, für die es keine genaue Entsprechung gibt, sodann mit den Schwierigkeiten der Sätze, die praktisch in jeder Sprache anders gefügt werden und Nebenbedeutungen mitschleppen. Mehr als 60 Autoren haben zum Gelingen des Bandes beigetragen, nicht zuletzt Isolde Ohlbaum mit ihren Schwarz-Weiß-Fotos.
So berichtet der Kritiker Helmut Böttiger über die sich in letzter Zeit häufenden Neuübersetzungen von Werken der Weltliteratur wie Doktor Schiwago von Boris Pasternak durch Thomas Reschke, Zenos Gewissen durch Barbara Kleiner oder Moby Dick von Herman Melville durch Matthias Jendis. Besondere Würdigung erfahren Swetlana Geier, die die Hauptwerke Dostojewskis neu ins Deutsche übertragen hat, und Hinrich Schmidt-Henkel wegen der "ersten lesbaren Ausgabe" von Célines Reise ans Ende der Nacht. In solchen Übersetzern, die zugleich als eine Art Neuerfinder des ursprünglichen Textes vorgestellt werden, erkennt Böttiger, ein wenig übertreibend, "die wahren Helden des Literaturbetriebs". Doch auch Hans Wollschläger darf in den horen ausführlich seine Neuübertragung von Joyces Ulysses, des "schwierigsten Buches" überhaupt, erläutern, und er lässt dabei sogar seinem vielgeschmähten Vorgänger Georg Goyert Gerechtigkeit widerfahren.
Mit Wehmut erinnert sich Thomas Reschke an die privilegierten Arbeits- und Lebensbedingungen, die nicht nur er als Literaturübersetzer in der DDR genoss: eine geruhsame Produktionsphase, gewürzt mit Fachgesprächen, Forschungsarbeit, Studienaufenthalten und guten Honoraren, was alles zum hohen Stand der Übersetzungskunst in der DDR beigetragen haben mag. Gert Ueding, Rhetorikprofessor in Tübingen, gibt einen Einblick in die übersetzungstheoretische Literatur, ausgehend vom Konzept der imitatio, der Nachahmung, das später der aemulatio, der überbietenden Nachahmung wich. So könne man die gesamte römische Literatur als Übersetzungskultur aus dem Griechischen bezeichnen. Die Renaissance wird später das gleiche Problem in einem suggestiven Bild auflösen, indem sie sich, so Ueding, "selber als Zwerg auf den Schultern eines Riesen sieht". Allerdings könne der Zwerg weiter blicken als der Riese, auf dem er fußt; ähnlich der Übersetzer, der so aus seiner bloß dienenden Rolle heraustritt.
Zur überbietenden Nachahmung zählt Ueding auch die deutschen Aneignungsversuche der Antike, etwa die ersten Übersetzungen der Homerschen Epen durch Bürger, Stolberg und schließlich - bis heute beachtet - durch Johann Heinrich Voß. In der unter anderem von Schleiermacher formulierten Aufgabe des Übersetzers, den "Geist der Sprache" aus dem Original in die eigene Fassung zu retten, will Ueding eine "Entscheidung gegen die Zielsprache" erkennen und verweist zugleich auf die "problematische Geschichte des deutschen Selbstbewusstseins". Eben darin, in dessen Unsicherheit wie Offenheit, glaubt er "den tieferen Grund für die beispiellose Übersetzertätigkeit deutscher Schriftsteller seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts" erkannt zu haben.
Gleich aus mehreren Sprachen, dem Russischen, Serbokroatischen, Französischen und Ungarischen, übersetzt die in Zurüch lebende Dichterin Ilma Rakusa. Das sei jedoch nicht viel anders, als wenn man nur aus einer Sprache übersetze: "Denn während ich übersetze, beschäftige ich mich maximal mit zwei Systemen: dem der Ursprungs- und dem der Zielsprache. Alle anderen Sprachen sind in dem Moment irrelevant." Es gelte in jedem Fall, den "Personalstil" des Autors ins Deutsche hinüberzuziehen.
Den diffizilen Problemen des Übersetzens von Lyrik widmet sich Johann P. Tammen. Gedichte seinen "prinzipiell unübersetzbar". Und: "Der übersetzte Text ist ein weitergeschriebener Text", kein Duplikat des Originals. Berichtet wird von den Erfahrungen mit der Reihe "Poesie der Nachbarn", einem Nachdichtungsprojekt, bei welchem seit 1988 alljährlich sechs deutschsprachige Lyriker mit ebenso vielen eines europäischen Nachbarlandes im Künstlerhaus Edenkoben zu einer Werkstatt zusammenkommen.
die horen: Nr. 218, 2. Quartal 2005. 27511 Bremerhaven, Postfach 10 11 10; 14 EUR
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