Wer würde heute zu behaupten wagen, dass die Antike lebt, dass die griechisch-römischen Mythen uns noch vertraut oder gar vorbildhaft wären? Zumal die Texte des klassischen Altertums aus den Lehrplänen der Schulen schrittweise verdrängt wurden und auf den subventionierten Bühnen oft nur noch in verhunzter Form erscheinen. Die Monatsschrift Literaturen fragt in ihrem Märzheft nach der Zukunftsfähigkeit antiker Modelle, ist freilich - wie mir scheint - allzu schnell bereit, die abendländischen Mythen aufgehen zu lassen in einem vielstimmigen globalen Supermarkt, statt sie erst einmal zu reformulieren und dann wo möglich in ihrer Bedeutsamkeit auch zu verteidigen.
So geht der Philosoph Hartmut Böhme vom "Verblassen der Antike" im Lauf des 20. Jahrhunderts aus. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass Kinder von Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums kaum noch erreicht werden und dass die Naturwissenschaften für die Zukunft der Gesellschaft ungleich wichtiger geworden sind als humanistische Bildung. Aber muss man das Überkommene deshalb gleich der Globalisierung ausliefern, indem man diese ins Positive kehrt? Globalisierung heißt, so Böhme, "auch anzuerkennen, dass es eine Vielzahl von "Antiken" gibt - in Südamerika, im Vorderen und Mittleren Orient, in Südasien, in Ostasien, in China". In welthistorischer Sicht schrumpfe die Antike "zu einer Sinnprovinz".
Das mag ja so sein, und doch werde ich den Eindruck nicht los, dass Böhme - was auch politisch im Trend läge - die mit dem Verlust der kulturellen Hegemonie Europas einhergehende Relativierung noch befördert. Verabschiede man nämlich das "Klassische", so erscheine es, meint er, "in neuem Licht: als frühes Experiment einer ökonomischen, multikulturellen und multi-ethnischen Globalisierung". Ein Exempel neben anderen nurmehr, historisch abgeschlossen.
Doch was bleibt dann den Menschen noch übrig, nachdem man ihnen ihre Geschichte und ihre autochthonen Sagen weggenommen hat? Womit dürfen sie sich noch identifizieren in ihren Ängsten und Wünschen, ohne in den Augen einer neuen Priesterkaste als reaktionär oder sonstwie inkorrekt zu erscheinen? Die nationalen Mythen sind bereits weithin geächtet, bald könnten ihnen auch die europäischen folgen, die unter dem Verdacht stehen, "eurozentristisch" zu sein.
Von einem "Verblassen der Mythen" könne gar keine Rede sein, betont Moritz Schuller im selben Literaturen-Heft. Die Mythen würden seit Jahrtausenden weitererzählt, wiederholt und variiert, lange Zeit mündlich, dann in Schriftform; der Medea-Stoff etwa von Euripides bis Christa Wolf. Noch im 20. Jahrhundert erfülle der Mythos eine reinigende und stärkende Funktion, so im Werk von Botho Strauß. Der größte "konzentrierte Mythenschub" der Moderne, gleichsam eine "verlegerische Herkulestat", kommt laut Schuller gerade erst in Fahrt: Mehr als 30 internationale Verlage haben sich zusammengeschlossen, um eine Sammlung von Neuerzählungen klassischer Mythen zu publizieren. Auf der letzten Frankfurter Buchmesse wurden Die Mythen offiziell vorgestellt mit den ersten drei Büchern: Die Penelopiade von Margaret Atwood, Die Last der Welt von Jeanette Winterson und Der Schreckenshelm von Victor Pelewin. Nun ist auch David Grossmans Löwenhonig auf deutsch erschienen, der dem biblischen Samson eine neue Lesart abzugewinnen versucht. Im Jahr 2038 soll der 100. Titel herauskommen. Im Kontext dieser gewagten Buchreihe, die in Deutschland vom Berlin Verlag betreut wird, ist von der "Entfremdung" der Menschen und der Notwendigkeit einer "Rückbesinnung auf das mythische Denken", ja auf "die Wurzeln des Westens" die Rede. Die bisherigen Publikationen machen eher einen zwiespältigen Eindruck. Atwood erzählt die Odyssee "feministisch" (also nicht sehr originell) aus der Sicht der wartenden Penelope; Winterson schreibt über den Titanen Atlas, der "leidend" die Welt auf seinen Schultern trägt. Der Russe Pelewin verlässt die Gegenwart erst gar nicht: Der Schreckenshelm dokumentiert die Unterhaltung in einem Chatroom. Das Internet wird zum Labyrinth des Minotaurus. Von einem angeblich "neuen Trend" in der Erforschung des Altertums berichtet Joachim Latacz; und zwar sei man in den letzten 20 Jahren von der überkommenen Annahme abgerückt, derzufolge die Kultur Griechenlands eigenständig aus griechischem Geist erwachsen sei. Stattdessen gehe man heute von den orientalischen (ägyptischen, phönizischen) Wurzeln der hellenischen Kultur aus: "Ex oriente lux." Diese Einsicht ist jedoch recht betagt, und ich wundere mich, dass Latacz, ein emeritierter Altphilologe, mit keinem Wort darauf hinweist. Schon die deutschen Romantiker Creuzer und Görres, auch die Brüder Schlegel, haben um 1810 die Bewegung der Mythen von Ost nach West beschrieben und dadurch den Zorn des (Homer-)Übersetzers Johann Heinrich Voß auf sich gelenkt.
Literaturen: Heft 3, März 2006 (Reinhardtstraße 29, 10117 Berlin), 8 EUR
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