Was tun?

Zeitschriftenschau Wie sehr hat sich die traditionsreiche Zeitschrift neue deutsche literatur wirklich verändert? Es war schon ein kleiner Schock, als ich im Mai des ...

Wie sehr hat sich die traditionsreiche Zeitschrift neue deutsche literatur wirklich verändert? Es war schon ein kleiner Schock, als ich im Mai des ersten Hefts der neuen ndl ansichtig wurde, so titelbunt herausgeputzt, auf teures Glanzpapier gedruckt und durchsetzt mit farbigen Fotoserien. Auch inhaltlich: kein Rezensionsteil mehr, dafür gleich drei Aufsätze zum Thema Film. Das ehrwürdige Organ des DDR-Schriftstellerverbands im 52. Jahrgang vom Aufbau Verlag an den Medienunternehmer Peter Schwartzkopff verhökert, war nicht wiederzuerkennen. Es irritierte obendrein, dass im Impressum kein verantwortlicher Redakteur genannt wurde; der prominent besetzte "Beirat" war ebenfalls verschwunden. Und der forsche Jungverleger erging sich in Allgemeinplätzen.

Nun, im zweiten Heft der neuen Folge, erweist sich der Umbruch dann doch weit weniger radikal als zunächst befürchtet, was vielleicht auch damit zu erklären ist, dass man die Abonnenten der alten ndl nicht verlieren will. Zwar wird an dem bunten Layout nicht gerüttelt, doch es gibt diesmal überraschenderweise keinen einzigen filmästhetischen Aufsatz. Nur realistische Erzählungen, unpoetische Gedichte und brave Essays. Ein Redakteur taucht im Impressum wieder auf, es ist Jürgen Engler, der das Blatt - nun erneut als Monatsschrift - schon seit 1992 redigiert. An den Essays fällt auf, dass man mit ihnen wohl, stärker als bisher, aufs Politisch-Soziale einwirken will.

Enno Stahls Rundumschlag über Deutschlands Stagnation, der sich im Untertitel "Eine Polemik" nennt, strotzt vor Biedersinn. Der Autor malt, indem er die einzelnen Politfelder abhakt, ein derart trauriges Bild des Landes, dass man am liebsten gleich nach Afrika auswandern möchte. Nichts werde gegen die Arbeitslosigkeit unternommen; der Einzelne, der sich selbstständig machen will, werde von der Bürokratie geknebelt. Die Gewerkschaften verwandelten sich in Arbeitslobbyisten, die jede Veränderung torpedieren. Das Kreative werde ausgemerzt, die Humanwissenschaften abgebaut. Auch im kulturellen Bereich regiere in Deutschland der Durchschnitt der Unterhaltungsbranche ... Doch am Ende dieser pessimisten Bilanz steht auch nur die hilflose Frage: Was tun?

Bringt es irgendeinen Erkenntnisgewinn, nach "Generationen" zu forschen und Gemeinsamkeiten zwischen Gleichaltrigen festzustellen, die so allgemein sind, dass sie höchstens Marktforscher interessieren? Die Schriftstellerin Uta-Maria Heim, wie ein Großteil der ndl-Beiträger in Berlin lebend, doch 1963 im Alemannischen geboren, also mittlerweile knapp jenseits der 40, beklagt zwölf Seiten lang ihr Lebensunglück und das der Angehörigen ihrer Generation: "Wir liefen stets mit und kamen trotzdem zu spät" - bei den Linksradikalen wie bei den Spaßsuchenden. Nun sei der erste Teil der Lebensplanung abgehakt: der Kinderwunsch entschieden, das Haus gebaut, ein neues Auto gekauft. Die nächsten Jahrzehnte werde nichts Entscheidendes mehr passieren. Warum nur, fragt Heim nicht ohne Selbstironie, wurden aus uns, den 1963 Geborenen, "die totalen Spießer"? Woher diese Biederkeit, diese Halbherzigkeit, diese Unfähigkeit zur Rebellion? Warum konnten wir keine 68er oder wenigstens 78er sein? Vielleicht waren ja die Bedingungen zu idyllisch: Die um 1963 zur Welt Gekommenen waren die ersten, "die zu Hause nicht mehr geschlagen wurden, die immer genug Vitamine zu essen bekamen und die beizeiten in Jeanshosen gesteckt wurden." Somit gab es keine Notwendigkeit, sich gewaltsam von Eltern und Lehrern abzugrenzen.

Zum 70. Geburtstag des aus der sächsischen Provinz stammenden Lyrikers Wulf Kirsten bringt die ndl eine anregende Würdigung. Sebastian Kiefer hat einen hoch reflektierten poetologischen Essay geschrieben, der Kirstens "erdgesättigtes" Werk, das von Huchel und Bobrowski beeinflusst wurde, zu deuten versucht. Kirsten, der Sammler verschwundener Wörter und Freund alles Dörflich-Randständigen, heißt es darin, kapituliere auch nicht "vor der zerschundenen großstädtischen Zwecksprache. Er verfällt nicht in ›kulturkritische‹ Gesinnungsrede. Er demonstriert die überlegene Modulationskraft der Dichtungssprache". Deren Elementarbaustein ist das einzige Wort, der Findling. Und das Gedicht selbst konstituiert sich als "nebenordnende Reihung von Einzelwörtern".

neue deutsche literatur, Nr. 556, Juni 2004 (Clausewitzstraße 4, 10629 Berlin), 6,- EUR


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden