Wir grüßen Gagarin

Lutz Seiler: moosbrand

Das mich irritierende Wort »moosbrand« steht nicht im Grimmschen Wörterbuch. Es könnte eine poetische Neuprägung des Lyrikers Lutz Seiler sein, ein Lieblingswort vielleicht, denn Seiler nennt nicht nur das hier vorgestellte Gedicht so - auch eine von ihm mitherausgegebene Literaturzeitschrift heißt moosbrand. Es könnte sich ebenso gut um ein Hauptwort des von Seiler gewiß verehrten Peter Huchel handeln, lebt und arbeitet der junge Poet doch als Verwalter in Huchels ehemaligem Wohnhaus in Wilhelmshorst bei Potsdam. »moosbrand« - vermutlich eine Art Flechte, die die Konsistenz des Steins gefährdet - weckt Assoziationen zwischen erdnaher Geborgenheit und ätzendem Aussatz und klingt, jedenfalls für meine Ohren, karg und schroff nach DDR.

Unter den Autoren aus dem Osten Deutschlands zählt Lutz Seiler - ähnlich wie Wolfgang Hilbig, Kurt Drawert oder Wulf Kirsten - nicht zu den westwärts orientierten Leichtfüßen mit einer Tendenz zum unterhaltsamen Witzeln. Er beharrt auf seinen Kindheitserfahrungen und Albträumen, auf der Düsternis einer Jugend in tiefster DDR-Provinz. Seine Verse haben einen ernsten, manchmal auch drohenden Unterton. Sie erzählen von Figuren, die »kein glück« hatten und - so Michael Braun - »versehrt sind von Traumata und unheilbaren Schocks«. Es ist darin die Rede von Tod und knöcherner Einsamkeit in der Erdtiefe, vom Nachkrieg, den Seiler zwar nur noch vom Hörensagen kennt, der in der DDR aber unterschwellig fortlebte, von gewachsten Dielen und stinkenden Pißecken, vom »milchdienst« im Kinderheim und vom »waschtrakt« beim Militär, vom Fußballverein Wismut Gera und vom sowjetischen Astronauten Gagarin, dessen Heldenbild unberechenbar schillert: wir hatten / gagarin, aber gagarin / hatte auch uns.

Relativ leicht erschließt sich im vorgestellten Gedicht allein die mittlere Strophe, die ein faszinierendes Schreckensbild festhält: Ein »du« wird an die einst um den Eßtisch versammelte Familie und an die erdrosselte Mutter erinnert, hoch gehangen mit den füssen / in der luft. Vermutlich geschah diese Tat zur Nazizeit, in der Eltern- und Großelterngeneration des Autors. Vielleicht hat man die Tote damals »beiseite«, am Friedhofsrand, bei den »unbekannten« verscharrt, an die nur ein mit »moosbrand« überwucherter Stein noch erinnert. Nun steht der Wahrnehmende vor ihrem »schlafskelett«, auf dem »schüttelmohn süsses gras« wachsen, bevor er »mit immer kürzeren beinen«, das meint wohl: im immer höheren Gras, sich entfernt.

Die drei durch schroffe Zeilenbrüche dicht miteinander verzahnten Strophen fußen auf genauen Erinnerungsbildern, die freilich im poetischen Akt verwischt oder auch grell verfremdet wurden zu einer fast hermetischen Gegenwelt. Von diesem Verfahren zeugen nicht nur Doppelworte wie »moosbrand«, »schlafskelett«, »schüttelmohn«, sondern auch mit Bedacht gesetzte grammatikalische Ungenauigkeiten: was / der kleine nazi hier vorüber trieb / dass sie die augen scholten / in der dunkelheit. Kaum auflösbar, wie verwaist stehen solche Satzfragmente im Gedicht, und ähnlich verlassen hat man sich auch das lyrische Ich vorzustellen, dort im Wald vor dem Sägewerk wie irgendein Romantiker, als Baum oder als Findelkind oder als beides zusammen: aus / dem baum schält sich das kind: / so steht es dann / von draußen da / mit eigenblut findelstimmen.


Lutz Seiler

moosbrand
... sprach am stein der unbekannten
die beiseite liegen; was
der kleine nazi hier vorüber trieb
dass sie die augen scholten
in der dunkelheit ... erkennst
du euer haus deine
mutter hoch gehangen mit den füssen
in der luft, wenn ihr
um diesen tisch zu abend sasset; was
wünschtest du aus ihrem schlafskelett
- schüttelmohn süsses gras, gehen
mit immer kürzeren beinen

Lutz Seiler ist 1963 in Gera geboren und lebt in Wilhelmshorst. Sein Gedichtband »berührt / geführt« erschien 1995 im Oberbaum Verlag in Chemnitz.- Das vorgestellte Gedicht steht in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter«, Nr. 148, November 1998.

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