Das Ende einer Kassandra

Vermittlungsprobleme Florian Gerster sagte den radikalen Umbau des Sozialstaates zu Zeiten voraus, als seine Partei noch Beruhigungspillen verteilte

Recherchiert man dieser Tage im Archiv, um den Werdegang des Ex-Chefs der Bundesagentur für Arbeit nachzulesen, dann fällt einem Erstaunliches auf: Florian Gerster, die einstige Wunderwaffe des Kanzlers im Kampf gegen die Hydra Arbeitslosigkeit, war ein Seher, eine SPD-Kassandra des Sozialstaates. Und das schon zu einer Zeit, als Oskar Lafontaine Vorsitzender der Sozialdemokraten war und der Republik noch eine andere Politik versprochen wurde.

Im Gegensatz zur Tochter des trojanischen Königs, die von Gott Apoll die Gabe des Vorhersehens der Zukunft erhielt, warnte Gerster jedoch nicht vor den schweren Zeiten, die da kommen würden, nein, er verkündete soziale Einschnitte und Leistungskürzungen als seien sie die Vorboten einer goldenen Ära, die über das Land kommen würden, wie Regen über ausgetrocknete Erde. Andere schwiegen dazu oder wehrten ab. Man hätte sich aber lieber Ehrlichkeit gewünscht.

Zur Erinnerung: Als Gerster nach Bernd Jagodas Abgang und der Affäre um geschönte Vermittlungsstatistiken zum Leiter der Nürnberger Behörde berufen wurde, hatte er längst von sich als rechter Frontmann der SPD reden gemacht. Er plädierte 1996 für eine allgemeine Verpflichtung zur Aufnahme von Arbeit und forderte ein Reformprogramm seiner Partei, um "nicht nur zu bewahren, sondern Lösungen für die Probleme des Sozialstaates zu formulieren". Als Rot-Grün die 630-Mark-Jobs neu regelte, sagte Gerster bereits ihr Scheitern voraus. 2002 schlug er radikale Reformen im Gesundheitswesen vor und präsentierte Ideen, die damals von der neuen Regierung vehement abgelehnt wurden: Leistungskürzungen bei der zahnärztlichen Versorgung, mehr Eigenbeteiligung der Versicherten. In seinem Buch "Gewinner und Verlierer im Sozialstaat" empfahl er 1997 die Einführung eines demographischen Faktors bei der Rente und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Als die Schröder-Regierung sich noch in kleinen Zirkeln - abgeschirmt von öffentlichem Interesse - über "Reformen" in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beriet, da regte Gerster bereits an, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere zu senken. Die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kommentierte er mit der Bemerkung, dass sich die Unterstützung "künftig eher am Niveau der Sozialhilfe" orientieren müsse. Damals schäumte die Partei über so viel Ehrlichkeit. General Franz Müntefering quittierte im März 2002 den unüberlegten Vorstoß mit der Bemerkung, im Parteivorstand habe es "natürlich auch kritische Äußerungen" gegeben. Heute reibt man sich verwundert die Augen, ob der Chuzpe, mit der die SPD-Vorderen seinerzeit ihre Hartz-Pläne und Agenda 2010-Ideen verleugneten. Franz Thönnes, Fraktionsvize, damals im Brustton sozialdemokratischer Überzeugung gegenüber Gerster: "Leistungskürzungen für Arbeitslose sind in der SPD nicht mehrheitsfähig." Für den damaligen Grünen-Chef Fritz Kuhn lag Gerster schlichtweg "falsch". Kassandra aber lachte laut.

Nur Wochen später formulierte der neue BA-Präsident seine Vorstellungen in einer Fernsehsendung erneut. Verdi-Großverdiener Frank Bsirske konterte, Gerster werde sich mit der kürzeren Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und -hilfe nicht durchsetzen können. Selten lag ein Funktionär so genau daneben.

Nun freuen sich zahlreiche Gewerkschafter über die Entlassung des "Radikalreformers". Allen voran Ursula Engelen-Kefer, die Gewerkschaftskarrieristin mit Ewigkeitsgarantie. Sie sitzt seit 1978 in Aufsichtsgremien der Bundesanstalt für Arbeit und wusste besser als viele andere, wie erfolgreich am Stuhl des zur Überheblichkeit neigenden BA-Chefs zu sägen ist. Schon zu Beginn von Gersters Amtszeit diagnostiziert sie: "Herr Gerster erinnert an die Sozialabbau-Debatte der frühen Kohl-Regierung." Auf die Frage, ob denn die Arbeitsämter effizient seien, kontert sie: "Arbeiten die Finanzämter effizient?"

Seit Jahrzehnten bedienen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften - ohne Kontrollinstanz - aus den Arbeitslosenversicherungen in zweistelliger Milliardenhöhe und schanzen ihren Bildungsträgern teure Umschulungsmaßnahmen für Arbeitssuchende zu. Die Bayerische Wirtschaft, Verdi und der DGB knappsen einen Großteil der 20 Milliarden Euro, die die BA für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ausgibt, für ihre Bildungsträger ab - hier einigt man sich einträchtig. Arbeitslosigkeit ist eben auch ein großes Geschäft, und jeder kriegt was ab.

Ein Mann, wie fragwürdig seine Methoden auch sein mögen, der diese Kreise stört, hat einen schweren Stand und keine Freunde in Nürnberg. Seine frappierende Offenheit, die Ellenbogenmentalität und der Wille, die Bundesagentur in Bewegung zu bringen, kosteten ihn den Job und das Ansehen. Die Affäre um zu hohe Beraterverträge, das hohe Gehalt von 250.000 Euro, drei Dienstlimousinen, seine Arroganz gegenüber Mitarbeitern und ein zu teuer eingerichtetes Büro hätte er vielleicht überstanden, wenn sonst alles beim Alten geblieben wäre. Während die Presse (vor allem Bild) die Geschichte eines Skandals erzählt, verschwindet der viel größere Skandal hinter der Geschichte, nämlich dass nach zwei Jahren Gerster, dass nach fünf Jahren Rot-Grün bald fünf Millionen Menschen arbeitslos sind, die Arbeitslosenindustrie sich aber munter weiter selbst bedient aus dem Topf der Monat für Monat einbezahlten Versicherungsgelder. Dazu schweigen alle, vor allem die Gewerkschaften und die Politik. Kassandra ist nun verschwunden. Und? Was ist mit den Schröders, Münteferings, Thönnes, Kefers, Bsirskes? Haben die nicht geschrieen, alles sei gelogen, als Kassandra die Zukunft prophezeite?


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