Der gerade Zickzackkurs

Die Ruhe des Antroposophen Stefan Reinecke nähert sich der verschlossenen Persönlichkeit Otto Schilys und beschreibt einen Mann, der immer schon eines wollte: nach oben

Otto Schily gehört eigentlich nicht in die heutige Zeit. Eine Szene: Schily sitzt 1996 in dem Berliner Promilokal Paris Bar und erblickt an einem anderen Tisch den Trainer des FC Bayern München Otto Rehhagel. Der wäre für einen Wahlkampfauftritt in seinem bayerischen Wahlkreis gut, befindet Schily, winkt den Ober zu sich, legt seine Visitenkarte aufs Tablett und lässt diese zu Rehhagel bringen. Doch es geschieht nichts. Rehhagel scheint völlig unberührt von der Geste und reagiert nicht. Schily kocht vor Wut und sagt: "Das ist eine Missachtung des Parlaments". Schily, der Mann mit dem grauen Cäsarenschnitt, stets mit Krawatte und Anzug, hat es schwer in einer ungeordneten Welt, in der kaum jemand noch weiß, was Etikette und Benimm ist. Und doch wird dieser Außenseiter eine historische Figur, der zweite SPD-Innenminister (abgesehen von dem nur wenige Tage dauernden Intermezzo des Sozialdemokraten Jürgen Schmude im Jahre 1982) in Deutschland nach Carl Severing, den die Regierung von Papen absetzte. Schily gehört nicht dazu und ist doch eine wichtige Persönlichkeit Nachkriegsdeutschlands.

Der Berliner Journalist Stefan Reinecke führt in seiner Biographie mit der Rehhagel-Szene vor, welche Persönlichkeit dem Leser auf den 379 Seiten näher gebracht wird. Ein etwas schrulliger Mensch mit großen Ambitionen, einer, der sich nur schwer vergleichen lässt mit den anderen ehrgeizigen Männern, die heute das Land regieren.

Reinecke ist ein intelligenter Beobachter der Bundesrepublik und ihrer Protagonisten. Er hat den kühlen analytischen Blick, den notwendigen Abstand zu einer Generation, die sich zunehmend selbst feiert für ihre glorreichen Taten. Reinecke, gehört nicht zu den Heiligenbildmalern der 68er, sondern eher zu ihren Entzauberern. Der richtige Autor und Journalist also, der dem Lebensweg des einstigen RAF-Verteidigers nachspürt und klären will, ob Schily die große Wende vollzogen hat oder sich immer treu geblieben ist. Es ist ja die große deutsche Krankheit zu glauben, man müsse immer an einem Glauben festhalten. Selbst dann, wenn schon um einen herum alles zusammenbricht und nur noch die qualmenden Trümmer der Überzeugung zu verteidigen sind. Wandel oder doch Kontinuität im Leben des einstigen Starlinken?

Als Otto Schily am 20. Juli 1932 in Bochum zur Welt kommt, wird gerade sein SPD-Amtsvorgänger in Berlin abgesetzt. Die Familie Schily bietet ein strenges, aber behütetes Elternhaus, in dem nach den Lehren des Antroposophen Rudolf Steiner gelebt wird. Das mag skurril anmuten, doch nicht zuletzt Dank der Innerlichkeit der mythischen Lehre schotten sich die Schilys erfolgreich gegen die Nazi-Indoktrinationen ab und machen sich nie gemein mit dem verbrecherischen Regime. Sein ganzes Leben lang wird Otto an dieser Lehre festhalten und in sich ruhen, aber auch ein schrecklicher Langeweiler werden. Dem Biographen mag es nicht aufgefallen sein, doch der heutige Innenminister hat ein so unbewegtes Dasein, dass jede Wegbeschreibung einer Weinbergschnecke zum Thriller wird. Schily entscheidet sich für das Studium der Jurisprudenz, weil ihm ein Musikstudium zu riskant dünkt. Er laviert sich mehr schlecht als recht durch die Examina und hält immer Abstand zu Frauen (er ist zu schüchtern) und radikalen Gruppen. Doch immer lebt er in der Gewissheit, besser zu sein als die anderen. Im Verlauf seiner Karriere steigert sich diese snobistische Haltung bis zu jener Maßlosigkeit, Visitenkarten durch Ober überreichen zu lassen.

Dies ist die eine Seite der Lebensmedaille, die andere zeigt einen hochtalentierten Anwalt, der sich gerne mit vielen Gegnern - am besten mit allen - anlegt und für Schlagzeilen sorgt. Und sich nie, nicht für einen Augenblick, von seinen Mandanten, den RAF-Leuten der Baader-Meinhof-Gang vereinnahmen oder gar instrumentalisieren lässt. Die Beschreibungen jener Prozessphase in Stammheim gehört zu den stärksten Leistungen des Autors, der es versteht, die wichtigsten Details und Szenen eindrucksvoll nachzuzeichnen. Er zeigt, wie geschickt Schily sich zwischen den Fronten von RAF, öffentlicher Meinung, Presse, Staat und Justiz zu bewegen versteht, ohne sich in zweifelhafte oder zweideutige Situationen zu manövrieren. Dabei tut er immer das Beste für seine Mandaten. Wieder ist es eine kleine Begebenheit, die die Haltung Schilys in jenen Tagen spiegelt. Schily steht auf einem Gang mit Gudrun Ensslin und unterhält sich, als hinter seinem Rücken der Obermacho Andreas Baader vorbeigeführt wird. Der schreit: "Ey, Schily." Keine Reaktion. Baader: "Ey, Schily." Da dreht sich Schily ausdruckslos um und sagt: "Herr Schily." Solche Szenen gehören aber auch schon zu den dramatischsten Höhepunkten in diesem Buch. Der populärste Anwalt der Linken scheut körperliche Berührungen und deshalb auch die großen Demos und Protestmärsche. Ganz im Gegensatz zu seinen jüngeren Kabinettskollegen Schröder (ein gefürchteter Umarmer) und Fischer (ein einst gefürchteter Raufbold) bleibt er lieber auf Distanz und hält sich Menschen vom Leib. Reinecke geht soweit zu behaupten, Schilys Abneigung gegen Menschen grenze an Misanthropie. So einer geht vielem aus dem Weg, was Politiker eigentlich ständig anzieht: der Liebe und dem Jubel der Masse. Eines ist sicher: verehrt werden, anerkannt sein, will Schily schon, aber eben von der Elite und von Ferne. In den Zeitungen der Republik soll er beklatscht werden. Nicht aber ihm auf die Schulter hauen soll Mensch.

Nach seinem Übertritt in die SPD wird es still um den "Bossi von links". Für Schily ist das eine besonders schwere Zeit, denn in der großen Volkspartei schätzen ihn nur wenige. Der einstige Grüne fühlt sich nicht angenommen und - wie immer - zu wenig respektiert. Es gibt keine Schlagzeilen mehr über ihn. Dieser Bedeutungsverlust tut weh. Erst durch seine Tätigkeit im Treuhand-Untersuchungsausschuss kann der Anwalt wieder sein Talent zeigen und rückt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Der Mann, der immer an den Rechtsstaat glaubte, ergreift erneut Partei für die Einhaltung der Paragraphen. Dafür ist er geschaffen. Dem Kleinbürger Scharping imponiert der elitäre Schily, und so sorgt der damalige SPD-Chef dafür, dass der Ex-Grüne aufrückt. Mit konservativer Haltung bei den Themen Lauschangriff und Asylrecht sichert Schily sich eine feste Position in der SPD. Bis heute.

Viele werfen ihm vor, von ganz links nach weit rechts gewandert zu sein. Doch er erkennt in seiner eigenen Biographie nur die Kontinuität der Überzeugung an einen funktionierenden Rechtsapparat, den er zu bedienen weiß. Freilich, es gibt Aussagen, die diese allzu einfache Rückschau Schilys konterkarieren. Doch wer hat nicht schon einmal etwas gesagt, dem er später widersprochen hätte? Nein, der RAF-Verteidiger und heutige Schützer von Recht und Ordnung schlug vielleicht einige Haken in seinem politischen Denken, aber im Grunde, so Reinicke, den gängigen Schilybildern zuwider laufende These, blieb er sich immer treu. Sein bürgerliches Verhalten und der ungebrochene Staatsglaube wirken bieder. Schilys Leben ist aber weniger von radikalen Brüchen gezeichnet wie jenes vieler anderer ehemals Linker, die heute in der Regierung sitzen. Reinecke hat mit seiner biographischen Analyse nicht nur das "Phänomen" Schily entschlüsselt. Nach seinem Buch versteht man die frühe "BRD" und das heutige Deutschland ein bisschen besser.

Stefan Reinecke: Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister. Hoffmann und Campe, Hamburg 2003, 399 S., 22,90 EUR


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