Im Herzen der Geschichte

Görlitz und Zgorzelec Brückenschlag über den Grenzfluss

Die Aufregung im Rathaus ist spürbar. Freundlich begrüßt die Pressesprecherin der Stadt Görlitz den Gast und eilt danach sofort zu einem Fernsehteam, das ein Statement braucht, weil eine Überwachungskamera probeweise in der Innenstadt angebracht werden soll. Also steht sie vor diesem großen Buntglasfenster und sagt einige Sätze ins Kameralicht hinein, um Minuten später die breite Rathaustreppe empor zu hasten. In ihrem Büro klingelt regelmäßig das Telefon. Wenige Tage vor dem Beitritt Polens zur Europäischen Union kommen Journalisten aus aller Welt in die östlichste Stadt Deutschlands.

"Görlitz ist die Stadt der Superlative", sagt Elke Fieber, die Pressesprecherin. "Wir sind nicht nur die östlichste, sondern auch die pünktlichste Stadt der Republik, weil der 15. Meridian, der die Zeitzone festlegt, direkt durch diesen Ort läuft. Und wir leben in der schönsten Stadt Deutschlands, weil hier original erhaltene Gebäude aus allen Stilepochen seit dem Mittelalter zu sehen sind."

Sie hat ohne jeden Zweifel Recht, die Fassaden allein auf dem Weg zum Rathaus sind beeindruckend. Verräter-Gasse, Kaisertrutz, Unter- und Obermarkt mit Rathaus und Dreifaltigkeitskirche locken zum Flanieren. Durch Görlitz führte Jahrhunderte lang mit der via regia - der Königsstraße - eine der wichtigsten Ost-West-Trassen, die bereits im Hochmittelalter in Anspruch genommen wurde. Aus dem Westen kamen Flanderns Tuche und Frankreichs Weine, aus dem Osten Holz und Felle, Wachs und Honig. Die Route führte bis an den Rhein und weiter nach Spanien - im Osten nach Breslau und darüber hinaus. Disneyworld könnte sich eine solche Stadtlandschaft aus versunkener Zeit wie in Görlitz nur wünschen.

In fünf Minuten nach drüben

Im stilvoll eingerichteten Büro von Oberbürgermeister Rolf Karbaum hängt ein Kronleuchter von der gewölbten Decke, dunkle, schwere Ledersessel stehen vor dem Schreibtisch. Der OB (64) mit gedecktem Anzug, weißem Hemd und blauer Krawatte strahlt die distinguierte Ruhe eines Anwalts aus und kann von den Fenstern seines Zimmers über die roten Dächer der Altstadt bis nach Polen sehen. Nach Zgorzelec hinüber, den einst zu Görlitz gehörenden Stadtteil auf dem anderen Neiße-Ufer, wo sich am Horizont hochragende, grünlich schimmernde Plattenbauten ins Bild schieben.

"Görlitz", meint Karbaum, "ist bestens vorbereitet auf den EU-Beitritt des Nachbarn". Das "Wichtigste und Symbolträchtigste" sei jetzt der Bau der neuen Brücke unten am Fluss, die Altstadt mit Altstadt verbinden werde. Die einst an gleicher Stelle vorhandene Flussüberquerung wurde 1907 gebaut und 1945 von der deutschen Wehrmacht gesprengt. Der jetzige Neubau - darauf legt Karbaum wert - entstehe in Gemeinschaftsarbeit: Deutschland und die EU finanzieren das Projekt, deutsche Ingenieure und Arbeiter führen es aus, von polnischer Seite aus werden die Stahlträger eingeschoben. Auf beiden Seiten habe man jahrelang Unterschriften gesammelt, damit diese Brückenschlag möglich wurde. Für Karbaum bedeute das sehr viel, sei er doch 1940 im heutigen Zgorzelec zur Welt gekommen. "1944 zog meine Mutter über die Neiße ins heutige Görlitz um. Wir sind nicht umgesiedelt worden, auch wenn es dieses Schicksal nach dem Zweiten Weltkrieg gerade in dieser Gegend natürlich hundert-, ja tausendfach gab."

Man wisse, dass künftig die Abhängigkeit voneinander wachsen werde und man sich noch näherkommen müsse. Der Fußweg von Karbaums Amtssitz nach Zgorzelec über die alte und bisher einzige Neiße-Brücke kann fünf Minuten dauern, manchmal eine halbe Stunde, je nachdem, wie viele Leute über die Grenze wollen. Für einen Gütertransport per LKW sind es nur 20 Minuten reine Fahrtzeit von einem Stadtkern zum anderen, doch bei einer überlasteten Zollabfertigung können daraus auch 18 Stunden werden. Nach dem 1. Mai sollte das Stauwerk Grenze ausgedient haben. "Ich werde um Mitternacht mit meinem Amtsbruder von drüben auf der bereits bestehenden Stadtbrücke stehen und den Beitritt begießen", versichert Karbaum sichtlich bewegt. Görlitz und Zgorzelec erwarte ein Feuerwerk und eine Nacht der Nächte, wie das in vielen anderen Städten entlang der Grenze auch sein werde.

Nicht in Geld messen

Die Menschen auf beiden Seiten des Flusses lassen sich nicht gern über Schwierigkeiten und Ungewissheiten hinwegtäuschen, wie sie zwischen zwei EU-Staaten mit einer weitgehend offenen Grenze absehbar sind. Görlitzer Handwerker befürchten, dass die wohlfeilen Anbieter aus Zgorzelec und Umgebung Kunden und Geschäfte an sich ziehen. Schon jetzt ist es üblich, dass sich viele Deutsche Gebiss und Haarwuchs in Polen behandeln lassen. Benzin, Fleisch und Möbel erstehen die Görlitzer ohnehin seit Jahren auf der anderen Seite. Zur Freude und zum Leid der Nachbarn. Wer in Zgorzelec ein Geschäft besitzt, empfängt zahlungskräftige Kunden selbstredend mit offenen Armen - wer aus der Sicht des polnischen Konsumenten urteilt, ärgert sich über steigende Preise, die der Kaufkraft des Nachbarn zu verdanken sind. Auch grassiert an den östlichen Gestaden der Neiße die Angst, deutsche Interessenten könnten schon in Kürze lukrative Immobilien erwerben und mehr als nur einen Fuß in der polnischen Tür haben.

Die Kommunalpolitiker in Zgorzelec verfügten im Übrigen nie über das Geld, um eine solch aufwändige Sanierung ihrer Altstadt betreiben zu können, wie das den Görlitzern möglich war, die auf Hilfe des Bundes, des Landes wie der EU rechnen konnten. "Uns ist das alles bewusst", meint Karbaum, "aber das Positive überwiegt. Sie müssen einfach sehen, dass wir jetzt zusammenwachsen." In Geld könne man das nicht messen.

Vor dem Rathaus schart sich eine Touristengruppe um den Neptunbrunnen, geduldig warten einige Autofahrer darauf, dass die Besucher ihre Fotos schießen und bald die Straße überqueren. Görlitzer sind Gäste gewohnt. Am Ende der schmalen abschüssigen Neißstraße, die unterhalb der Kirche St. Peter und Paul zur Grenze am Fluss führt, gruppieren sich andere Stadtwanderer an dem Bauplatz Brücke, und ein Stadtführer erklärt: Man befinde sich hier gewissermaßen "im Herzen der Geschichte dieser Stadt" - hier verschmelze etwas von dem, was Görlitz einmal war. Nach diesem Bescheid unterbricht einer der Touristen die andachtsvolle Stille: "Was glauben Sie, wie werden die Auswirkungen für die Menschen sein, wegen den Arbeitsplätzen und so?" - Da zuckt der junge Mann mit den Schultern. "Wenn die Brücke fertig ist und wir rüber spazieren können, dann kommen Sie doch einfach wieder her, und wir werden sehen, wie sich alles entwickelt hat."


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