Im Keller spielt die Musik

Niedergang Vor zehn Jahren traten die Bergleute aus Bischofferode in einen Hungerstreik, der als der härteste Arbeitskampf, den das Land je erlebt hat, in Erinnerung blieb

Einige Männer und eine Frau sitzen vor diesem Fernseher mit dem schwarzen Gehäuse und sehen sich mit unbewegten Gesichtern den Film über den Hungerstreik in Bischofferode an. Von irgendwo hört man harte, schnelle Musik wummern, aber weiß nicht woher. Neben der Flimmerkiste an der Wand hängt eine große schwarze Fahne, auf der sich zwei Hammer kreuzen. In silberfarbenen Buchstaben steht darauf: "Bergmannsverein Glückauf Weidtmanshal".

Dann ist Friedrich Bohl, der ehemalige Kanzleramtsminister, auf dem Bildschirm, und die Frau fragt: "Was macht eigentlich der jetzt?" Und einer antwortet: "Is mir egal, was der heute macht." Der Mann, der das gesagt hat, hält die Arme verschränkt, gerade so, als wolle er damit verhindern, dass er gleich explodiert, weil in ihm die Wut aufsteigt wegen dieser Politiker, die er da im Fernsehen sieht. Und das obwohl alles schon zehn Jahre her ist. Damals nämlich traten die Bergleute des "Thomas Müntzer Schachts" in Bischofferode in den Hungerstreik, um gegen die Stillegung des Standortes und für ihre Arbeitsplätze zu kämpfen. Ein Jahrzehnt ist das nun her und immer noch befällt den Mann Zorn, wenn er sich daran erinnert. Obwohl das alles doch längst vorbei ist. Ganz weit weg. Aber hier in Bischofferode anscheinend immer noch viel zu nah.

Dann ist Bernhard Vogel auf dem Bildschirm, der noch vor wenigen Wochen Ministerpräsident des Freistaates Thüringen war. Vogel sagt Sätze, in denen die Worte "Aufbauleistung" und "neue Arbeitsplätze" vorkommen. Die Männer vor dem Fernseher lachen laut über den CDU-Politiker mit seinen schlohweißen Haaren. Auch der Mann, der seine Wut scheinbar nur mit verschränkten Armen bändigen kann, lacht höhnisch, er heißt Gerhard Jüttemann (53) und war damals der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende.

Das Zimmer, in dem er und seine Kollegen jetzt sitzen, ist der Vereinsraum des Thomas Müntzer Kali-Vereins Bischofferode e.V., dessen Vorsitzender Jüttemann ist. Die Mitglieder treffen sich, weil sie heute den Gedenkstein niederlegen für verunglückte Steiger, die es in der Geschichte des Bergwerks gab. Das ist Tradition. Sie treffen sich auch, um an den großen Hungerstreik zu erinnern, den größten, den das Land je erlebt hat.

Früher mal diente dieses Gebäude als Betriebsambulanz. Durch die Fenster blickt man auf die gegenüberliegende Seite der Straße, an der die Kantine steht. Dort haben die Kumpel im Sommer 1993 wochenlang gestreikt und jede Nahrung verweigert. Daneben steht einsam noch ein Förderturm. Hinter der einstigen Ambulanz erhebt sich ein ziegelsteinfarbener Berg, eine Rückstandshalde. Die wuchs mit den Jahrzehnten des unterirdischen Kaliabbaus. Die Erde aus den Stollen häuften die Arbeiter Stunde um Stunde, Tag für Tag hier auf. Über 80 Jahre lang. Jüttemann fuhr 1974 zum ersten Mal in den Kalischacht ein. Kurz nach seiner Ausbildung zum Zerspanungsfacharbeiter erhielt er als Dreher unter Tage die Anstellung in seinem Geburtsort.

Projekte, Planungen, Ideen -nichts ist geblieben

Das Werk in Bischofferode war das modernste und erfolgreichste Unternehmen seiner Art in der DDR. Die Kali-Salze exportierte das Bergwerk in alle Welt, mehr als die Hälfte der Ausfuhren gingen nach Frankreich, Finnland, Österreich, Belgien, Südamerika und Italien. In den besten Zeiten beschäftigte man hier über 2.000 Arbeiter. Bischofferode, ein Ort mit etwa 2.000 Einwohnern, war eine Erfolgsgeschichte. Doch nach der Wende begann der Abstieg für das dann von der Treuhandanstalt verwaltete Unternehmen. Mehr als tausend Arbeitsplätze baute das neue Management allein in den Jahren 1990 bis 1993 ab. Das Werk gehörte seit der Vereinigung Deutschlands zur Mitteldeutschen Kali AG (MdK), die alle ostdeutschen Gruben vereinte, und war neben dem Standort Merkers zur Schließung vorgesehen. Nach dem Willen der Treuhand sollte die MdK, mit der Kali und Salz AG, einer Tochter des Ludwigshafener Konzernriesen BASF, fusionieren.

"Der Westdeutsche Konzern wollte sich nur einen Konkurrenten vom Halse schaffen", sagt Jüttemann. Die 700 damals noch beschäftigten Kali-Kumpel sollen alle entlassen werden. Marktbereinigung auf westdeutsch. Am 1. Juli 1993 stimmt der Treuhand-Ausschuss des Bundestages den Fusionsplänen zu. Noch am selben Abend beginnen die Kumpel die Verzweiflungsaktion und hungern. Zehn Tage später verschärfen die Frauen der Arbeiter den Kampf, in dem sie die Gruben besetzen.

Jüttemann holt tief Luft und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Seine grauen Haare sind nach hinten gekämmt, er trägt einen Leninbart. Seine Augen sind groß und braun. Wieder ist diese Musik zu hören, sie dringt dröhnend vom Keller des Hauses herauf, Rock-Musik, Heavy Metal. "Einen Raum im Keller haben wir an eine Jugendband aus dem Ort vermietet."

Ein Großteil der anderen Räume beherbergt die Erinnerungen an eine große Bergbautradition, die im Jahre 1909 in diesem Dorf begann. Seit 1999 ist hier das Berg- und Kalimuseum eingerichtet, für das sich die letzten Kumpel Bischofferodes eingesetzt haben. Noch 70 von ihnen arbeiten an der Verfüllung der bis zu 600 Meter tiefen Schächte. Irgendwann in ein paar Jahren wird dann endgültig dicht gemacht. Einer von denen, die einst für ihren Job hungerstreikten und hier noch arbeiten, ist Wilfried Beckert. Er ist Ende 40, schlank, etwa 1,80 Meter groß, Schnauzer, blondbraunes Haar. Er führt manchmal, meist an Sonntagen, die Besucher durch das Museum und erklärt ihnen, wie das Kalisalz gewonnen wurde, und wie die Bergungstrupps auf Zack sein mussten, wenn es mal Havarien gab. Er selbst ist immer noch im Bergungstrupp. Es sei Vorschrift, Rettungsmannschaften vorzuhalten, solange Arbeiter in die Stollen steigen müssen, erklärt er.

20 Tage lang hungerte Beckert vor zehn Jahren in der Kantine auf der anderen Straßenseite. "Nochmal", sagt er, würde er das nicht tun. "Am zwölften Tag schmerzten meine Nieren, und ich fühlte mich so schwach." Beckert trägt seine Bergmannsuniform, schwarze Hosen, weißes Hemd, schwarze Weste und eine ebensolche Krawatte. In einem der Ausstellungsräume erinnern Transparente und Fotos an den Kampf, den die Menschen in Bischofferode führten. Auf einem Bild ist Beckert zu sehen. Er liegt, abgemagert, sichtlich blass und müde, auf einer Rot-Kreuz-Pritsche, die mit grobem, grauem Stoff bezogen ist. Er blickt in die Kamera. Und jetzt, eine Ewigkeit später, betrachtet er sein Bild, ein bisschen verlegen. "Wissen Sie, so viel bekam ich gar nicht mit, weil ich ja in der Kantine lag und es mir schlecht ging." Nur an eine Geschichte kann er sich genau erinnern. An die, als ein Bild-Reporter kam und sich immer ganz in der Nähe der Hungernden aufhielt, weil er hoffte, es gäbe irgendwann den ersten Toten, und er wäre dann der erste, der das Foto hätte. "Das fand ich dann doch, ...na ja." Er winkt ab.

In jenen Tagen, gab es auch Hoffnung, weil sich der westfälische Investor Johannes Peine engagierte und den Betrieb übernehmen wollte. Peine war überzeugt, auf eigenes Risiko das Werk zum Erfolg führen zu können. Doch die West-Lobby blieb hart und setzte Politiker und Treuhandanstalt unter massiven Druck. Auf keinen Fall durfte sich ein Konkurrent langfristig etablieren. Später erzählte Peine, dass er ausgebremst wurde. "Es ging nicht um Wirtschaftlichkeit, sondern um die Bewahrung der westdeutschen Kali-Kartelle."

Jüttemann zeigt auf den Stapel von Zeitungsausschnitten, die in einem Ordner liegen. Selbst US-Medien erzählten die Geschichte von den Männern und Frauen im vereinten Deutschland, die um ihre Existenz fürchteten und deshalb den Hungertod in Kauf nahmen. Die Pudhys gaben Konzerte vor den Werkshallen, Veronika Fischer und Angelika Weiz unterstützten die Arbeiter. Bis zu 15.000 Protestierer versammelten sich vor der Kantine. Prominente, Politiker und Parteichefs kamen. "Manche", sagt Jüttemann, "kamen nur, um in den Medien zu sein, aber viele kamen, weil sie wirklich helfen wollten, nur konnten wahrscheinlich viele nicht wirklich helfen. Die Macht lag ja schließlich woanders."

Von unten wummert harte Rock-Musik - Heavy Metal

Ein Jahr nach dem Streik zog Jüttemann für die PDS in den Bundestag ein, ohne der Partei beizutreten. Acht Jahre arbeitete der Bergmann im Parlament, aber die Erfahrung sei ernüchternd gewesen, sagt er heute. "Nur Kleinigkeiten können Sie bewegen, Details verhandeln." Manchmal erreichte er wenigstens, dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht eingestellt oder ein paar neue geschaffen wurden. Immerhin, sagt er, besser als nichts. Dabei zuckt er mit den Schultern. Seit einem Jahre lebt er wieder in seiner Heimat und hält mit der Arbeit für den Kali-Verein die Erinnerung aufrecht. Nur nicht resignieren, sagt er. Obwohl er manchmal so klingt. Jüttemanns Sohn (28) ist arbeitslos im Dorf, und er habe Angst, dass der irgendwann ganz aufgebe und nicht mehr versuche, was aus sich zu machen. Die Tochter ist 19 und hat eben ihr Abitur bestanden. "Sie will Psychologie studieren." In seiner Freizeit hegt Jüttemann seine Taubenzucht. Das gibt ihm Frieden. Nachdem der Streik beendet wurde, hoffte er, dass die Versprechungen, die die Politiker gemacht hatten, wenigstens eingehalten würden. Bernhard Vogel versprach 1.000 neue Arbeitsplätze in Bischofferode. Nichts ist passiert. Man versprach Projekte, Planungen, Ideen. Nichts ist geblieben.

Nach und nach verabschieden sich die Kumpel und die Museums-Besucher bei ihm per Handschlag und sagen zum Abschied "Glückauf!", und er nimmt die Schlüssel und sperrt dann ab. Im Keller dröhnen immer noch die Bässe und das Schlagzeug, die Jugendband spielt am Wochenende oft bis spät in die Nacht hinein. Hier stören sie niemanden. Hier, in der ehemaligen Kali-Betriebsambulanz, im Schatten des großen Abraumberges, hört sie jetzt keiner mehr.

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