In Berlin hat die SPD große Plakate für den Europawahlkampf aufgestellt. Auf einem ist zu lesen: "Friedensmacht. Politik mit Entschlossenheit". Auf einem anderen: "Zukunftsgerecht. Politik mit einem klaren Prinzip". Zumeist widersprechen Slogans ja der wirklich umgesetzten Politik, doch selten klaffte eine so große Lücke zwischen Wahl-Sprüchen und politischer Praxis wie in diesen Tagen bei den Sozialdemokraten. Deutsche Soldaten stehen in Afghanistan und auf dem Balkan, doch "Friedensmacht" sei die SPD. "Zukunftsgerecht", ruft es von den Plakaten, den Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen drohen jedoch schon bald herbe Kürzungen, während Vorstandsbosse mit Millionengagen abgefunden werden - auch wenn sie Pleiten zu verantworten haben.
Und dann steht er da, stramm, lächelnd, feixend mit den Journalisten im Willy-Brandt-Haus: Franz Müntefering, der Parteichef, und er soll all diese Widersprüche aufheben, die er auch selbst mitgeschaffen hat. Es ist in der Pressekonferenz nach der Präsidiumssitzung, als die Journalisten von dem Vorsitzenden wissen wollen, ob die Regierung tatsächlich beabsichtige, nun den Kurs der Agenda 2010 zu verlassen und, wie der Spiegel berichtet, tatsächlich eine Investitionsoffensive zu starten, ohne Rücksicht auf die Maastrichtkriterien. Müntefering wehrt ab, formuliert Sätze, die so eindeutig sind, wie die biblische Offenbarung. Investitionen ja, aber Haushaltskonsolidierung auch, sparen werde die Regierung weiterhin, aber nicht mehr ganz so streng. Müntes Sätze. Er wird nicht müde, sie in immer neuen Variationen zu präsentieren.
Die Story aus dem Kanzleramt
Wahrscheinlich weiß er, dass heute wieder so ein Tag ist, an dem es vor allem um eines geht: Heiße Luft. Angeblich haben die Reformen ein Ende, der Kanzler will - angesichts anhaltend niedriger Zustimmungsraten für die SPD - mal wieder was Neues probieren, und sein wichtigster Berater Frank-Walter Steinmeier tüftelte da etwas aus. Endlich sollen das Sparverhalten der Bevölkerung und die Investitionsmüdigkeit der Unternehmer gebrochen werden. Eine neue Ausgabenpolitik soll Wirtschaft und Konsumenten dazu bringen, Geld in die Ökonomie zu pumpen. Soweit die Story aus dem Kanzleramt.
Geradezu peinlich wirkten in den vergangenen Jahren die steten Beteuerungen Gerhard Schröders und seiner Mannschaft, das Wachstum werde sich schon bald bessern, die Konjunktur anziehen und somit die Lage auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen sich entspannen. Quartal für Quartal belehrten die Wirtschaftsinstitute den Regierungschef, dass seine Prognosen zu optimistisch seien. Die nach Oskar Lafontaines plötzlichem Abgang eingeleitete Sparpolitik zeitigte keine Erfolge. Immer neue Haushaltslöcher musste Hans Eichel stopfen - ohne Aussicht auf ruhigere Zeiten in seiner Fiskalpolitik. Dennoch setzte Rot-Grün den Kurs fort, Schröder brach sogar mit den Gewerkschaften, obwohl nicht zuletzt sie ihn vor zwei Jahren davor bewahrten, die Wahl zu verlieren und somit nur eine Fußnote der Geschichte zu bleiben. Damals verließen den Inhaber der Richtlinienkompetenz die Vorsitzenden der Arbeitgeberverbände und trommelten lieber für das Unionsgespann Merkel und Stoiber. Doch all das vergaß Schröder schnell in seiner zweiten Amtszeit und rief die Agenda 2010 aus. Er glaubte, mit seinen Reformen die Wirtschaft an die Sozialdemokratie binden und die Sozialdemokratische Partei ohne große Verluste für immer verändern zu können. Beides funktioniert nicht. Die SPD verliert zunehmend Mitglieder und ihr Hauptthema "Soziale Gerechtigkeit". Ohne das aber drohen weitere Wahldebakel, bei den Europa- und den anstehenden Landtagswahlen. Und auch sonst verbucht Rot-Grün in diesen Tagen herbe Niederlagen. Im Vermittlungsverfahren über das Zuwanderungsgesetz ist keine Einigung mit der Union zu erwarten, darüber hinaus kriegen sich die Koalitionäre selbst über dieses Thema in die Haare. Die Ausbildungsplatzabgabe ist umstritten und droht noch zum Debakel zu werden. Experten warnen vor einem Riesenchaos bei der Einführung des Arbeitslosengeldes II. Und es gibt keine Hoffnung auf ein Wunder.
Nun also versuchen die SPD-Oberen etwas Neues. Irgendwo zwischen den Zeilen des Regierungssprechers Bela Anda soll man Keynes raushören. Der Staat, sprich die Regierung, kann Konjunkturpolitik betreiben - wenn sie nur willens ist. Das soll die neue Botschaft Schröders sein. Schon im Frühjahr empfahlen die sechs wichtigsten Wirtschaftsinstitute dem Kanzler, die staatlichen Investitionen zu erhöhen. Peter Bofinger, Wirtschaftsprofessor und Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage, verweist darauf, dass Deutschland die restriktivste Haushaltspolitik führe und die höchsten Real-Zinsen (also die inflationsbereinigten Zinsen) in der Europäischen Union habe. Das von der Konjunktur unabhängige strukturelle Defizit sei von 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 1,9 Prozent zurückgegangen. Investieren heißt also die Devise. Lange schon wiesen Berater die Bundesregierung auf die aggressive Ausgabenpolitik der Vereinigten Staaten hin. Die Regierung Bush, der sicherlich niemand linke Finanzpolitik unterstellen würde, wandelte einen Überschuss von 0,6 Prozent binnen weniger Jahre in ein Defizit von 4,4 Prozent. Nicht zuletzt deshalb brummt der US-Motor. Von einem ähnlichen Erfolg träumt man im Kanzleramt schon lange. Man erinnert sich nun an den Programmteil der Agenda 2010, der "Bildung und Forschung" heißt. Hier will die Regierung milliardenschwer investieren. "Für das Jahr 2004 ist eine weitere Erhöhung der Ausgaben für Bildung und Forschung auf über 9,7 Milliarden Euro vorgesehen", steht es in der Agenda geschrieben. Steinmeier, der federführend bei der Entwicklung des finanzpolitischen Schwenks gewesen sein dürfte, schlug vor, das Thema Bildung als Deckmantel zu benutzen, um die Geradlinigkeit des Konsolidierungskurses zu wahren. Gleichzeitig jedoch könne man damit ein deutliches Signal aussenden, um endlich positive Stimmung bei den Gewerkschaften und in der Bevölkerung zu erzeugen. Denn gegen die Stärkung von Universitäten und Forschungsstätten kann niemand etwas einwenden, nicht einmal Minister Eichel oder die Wirtschaft. Denkste.
Wie in einer Bananenrepublik
Kaum waren die Pläne der "geheimen Kanzlerrunde" veröffentlicht, meldeten sich die alten Gegner einer "staatsinterventionistischen Politik" zu Wort. Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement, der zu dem Gespräch nicht eingeladen war, warnte vor einer Abkehr vom Reformkurs, und die Chefs von BDA und BDI läuteten die Sturmglocken gegen die Ausgabenpläne. Unionschefin Angela Merkel verlangte eine "Erklärung Schröders", ihr Fraktionsvize Friedrich Merz schimpfte, dass sei "wie in einer Bananenrepublik". Angeblich waren es Eichels Mitarbeiter, die dem Hamburger Nachrichtenmagazin die Informationen über das Treffen im siebten Stock des Bundeskanzleramtes steckten. Mitsamt der Info, dass dies alles zu "Rotwein und Kässehäppchen" beraten wurde.
Obgleich Eichel, den die Medien einst sogar als Reservekanzler titulierten, längst in der Gunst und im Ansehen beim Kabinettschef verloren hat und wohl bald einem neuen Minister wird weichen müssen, kämpft er immer noch um seinen Sparkurs. Manche seiner engsten Mitarbeiter nennen diese Haltung "unverständlich" und "starrsinnig", denn seit seiner Amtsübernahme stolpert er von einem Haushaltsloch ins Nächste. Mittlerweile geht er davon aus, sogar die Rekordverschuldung des Ex-Finanzministers Theo Waigel (CSU) von 40 Milliarden Euro aus dem Jahre 1996 zu überbieten. Auf der Homepage seines Ministeriums verspricht er immer noch wacker ab dem "Jahre 2006 keine neuen Schulden mehr zu machen". Genüsslich verweist die Opposition auf die anstehende Steuerschätzung am 13. Mai, denn die wird wieder mal für Rot-Grün miserabel sein. Milliardenausfälle, die Eichel mit weiteren Sparbeschlüssen zu stopfen beabsichtigt. Hilfreich steht ihm dabei Clement zur Seite. Doch die Zeit dieser Männer scheint abgelaufen. Angesichts des Dauerdesasters am Arbeitsmarkt will die Mehrheit von Rot-Grün lieber etwas Positives verkünden. Joseph Fischers Kommentar, der Maastricht-Pakt sei auch ein "Wachstumspakt" zeigt deutlich, wohin die Koalition steuert. Bald schon wird Gewissheit über den Kurs herrschen. Am 23. Juni wird der Haushalt beschlossen, dann muss das Kabinett Farbe bekennen.
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