Es sind diese wenigen Minuten an diesem Samstagnachmittag, die bereits zeigen, welche Stimmung hier in der Chemnitzer Stadthalle herrscht: Hinten links im Saal steht Uwe-Jens Heuer, Sprecher des Marxistischen Forums, an einem Mikrofon und bittet die Delegierten, doch fair zu bleiben und die politische Kultur der Partei nicht kaputt zu machen. Vorher sprach eine junge PDS-Gesandte und befürwortete das neue Programm. Dabei teilte sie einige Seitenhiebe aus gegen jene, die zahlreiche Passagen nicht gutheißen wollten, nicht gutheißen könnten. Heuer ist 76 Jahre alt, trägt einen gelben Pulli und hat eine brüchige Stimme, doch feste Überzeugungen. Trotz seines Herzleidens und entgegen dem Rat des Arztes kam er zum Programmparteitag, um die "GenossInnen" an Marx zu erinnern und daran, dass sich die "Partei des Demokratischen Sozialismus" mit dem neuen Entwurf von diesem entferne. Als Heuer endet, antwortet vorn auf dem Podium sitzend Gabi Zimmer: "Wir haben deine Bitte zur Kenntnis genommen." Und Zimmer klingt in diesem Moment ein bisschen kühler als sonst - etwas arrogant vielleicht auch. Später wird Heuer sagen, dass der marxistische Eklektizismus im neuen Programm zum Schaudern sei. Die PDS-Delegierten verstünden Marx nicht mehr. Jetzt aber setzt er sich wieder auf seinen Platz, resigniert und müde. Der Saal döst vor sich hin.
In der ersten Reihe neben dem Ehrenvorsitzenden Hans Modrow sitzt Sahra Wagenknecht, Sprecherin der Kommunistischen Plattform, in einem dunkelroten Kostüm. Sie blickt sehr ernst auf den Redner, der dort oben am Pult steht und gerade für das neue Programm wirbt. Es dürfte schon der sechste oder siebte sein, der für den Entwurf ist. Als sich Kameras auf Wagenknecht richten, dreht sie den Kopf zur Seite. Es könnte sein, dass sie künftig noch weniger in der PDS zu sagen hat. Mit der Anerkennung des Gewinninteresses von Unternehmern und der Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft treten die Sozialisten in den Club der anderen etablierten Parteien ein. Und in diesen Clubs sind Leute wie Wagenknecht nicht gern gesehen. Besser passt da schon jemand wie der Berliner Landesvorsitzende Stefan Liebich (30), der nun spricht. Er beschreibt, wie schwierig es sei, an der Regierung beteiligt zu sein, und erklärt dem Saal, dass ohne den rot-roten Senat in der Hauptstadt alles noch viel schlimmer und unsozialer wäre. Sein Auditorium klatscht brav, weiter hinten applaudiert in diesem Augenblick auch Thomas Flierl, seines Zeichens sparsamer Kultursenator.
Nicht weit von ihm sitzt Anja, eine junge Delegierte aus Hamburg, deren Verband als besonders störend auf vorangegangenen Parteitagen in Erscheinung trat. Sie geht zum Mikro und fordert das Arbeitspräsidium auf, für eine Quotierung der Redebeiträge zu sorgen. Ein anderer stimmt ihr zu und erinnert daran, dass 1959 auf dem Godesberger Parteitag der SPD acht Befürworter und acht Gegner des neuen Parteiprogramms sprachen. Doch Chemnitzer Parteitagsregie sieht derlei nicht vor. Der Antrag wird mit übergroßer Mehrheit abgelehnt. Und wieder kehrt Ruhe ein. Vorn auf dem Podium wechseln sich die Redner im Drei-Minuten-Takt ab und spulen ihre Texte runter. Hinter ihnen hängt das weiße Plakat, auf dem in schwarzen Lettern steht: "Ein Programm für die Menschen: Demokratischer Sozialismus". Links daneben erscheint Marx als Comicfigur mit einem überproportional kleinen Kopf und langem Mantel, schüchtern die Hände in diesem vergraben.
Man kann es schon am Tag vor der Entscheidung spüren, dass nach fünf Jahren Debatte dieser Parteitag dem neuen Programm endlich seinen Segen gibt, denn es ist eine Veranstaltung ohne grundsätzlichen Streit und ohne echte Argumentation. 2004 stehen eine ganze Reihe von Landtagswahlen an, und da möchte die PDS Erfolge erzielen. Lothar Bisky, der Vorsitzende, wünscht sich deshalb eine erneuerte Partei und gesellschaftliche Anerkennung - auch im Westen der Republik. Das wünscht sich auch sein Freund Gregor Gysi, der in der zweiten Reihe sitzt und sich lässig nach hinten lehnt. Er soll bald wieder verstärkt für die Partei in der Öffentlichkeit werben und "draußen" klar machen, dass die Sozialisten die neuen Umstände verstehen. Warum sonst achtet man nun "unternehmerisches Handeln und Gewinninteressen" als positives und notwendiges Merkmal der heutigen Gesellschaft?
Am Vormittag hielt Gregor Gysi eine Rede auf dem Marktplatz von Chemnitz und wetterte - gekonnt wie immer - gegen Rot-Grün und Schröders Agenda 2010. Viele in der PDS wünschen sich Gysi, den Berliner Ex-Wirtschaftssenator, wieder als Spitzenkandidaten, spätestens bei der Bundestagswahl 2006. Als Gysi in die Tagungshalle kommt, geht er an den Ständen der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) vorbei. Dort verteilen Aktivisten Handzettel und sagen: "Kommt zu uns, wir sind eine echte Alternative".
Durch die Reihen der Delegierten schlendert Ex-Parteivize Dieter Dehm in blauen Jeans und dunkelblauem Rollkragenpulli. Er herzt allenthalben Bekannte, lächelt und scheint bester Laune. Dehm war bisher gegen das neue Programm und wollte es scheitern lassen, nun aber deutet er im letzten Moment einen Sinneswandel an, stimmt für das Programm und erklärt danach, dass er den Entwurf gerade noch akzeptieren kann. Damit gehört auch er zu den Siegern des Tages.
Auf einem einzigen Tisch hat jemand ein Papier aufgestellt. Darauf ist zu lesen: "Nein zum Krieg!" Das galt dem Konflikt um Gewaltverzicht und Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates - ein Konflikt, der bis zuletzt die Geister zu scheiden drohte. Niemand tritt dezidiert gegen die neue Formulierung auf, die dem Sicherheitsrat das "Recht" zubilligt, "militärische Maßnahmen" zu ergreifen, wenn alle zivilen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, um eine Gefährdung des Weltfriedens abzuwenden.
Bisky setzt sich auch hier durch und feiert im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Andere gratulieren ihm, natürlich schüttelt ihm auch Gysi die Hand. Oben auf der Leinwand blickt immer noch der Marx-Comic auf die Politiker herab. Viel Papier mit Änderungsanträgen zum neuen PDS-Programm liegen unbeachtet im Saal herum. Vor dem Tagungsgebäude weht ein kalter Wind, hebt ein MLPD-Flugblatt hoch und trägt es fort.
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