Tischtennis auf Beton

Eine Osttour Die Bundesvorsitzende der GEW, Eva-Maria Stange, kämpft gegen die Zerstörung der Bildung in den neuen Bundesländern. Aber die Schlacht scheint längst verloren zu sein.

Nur einen Sitz weiter hinter dem Busfahrer sitzt diese schlanke, 46 Jahre alte Frau, in ihrem langen, hellen Sommerkleid und den dunkelbraunen Haaren, in der die Sonnenbrille steckt. Die Sonne knallt auf die Scheibe, hinter der die grüne Landschaft Mecklenburg-Vorpommerns vorbeizieht. Die Frau kneift ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Neben ihr liegt ein Buch auf dem Sitz. Es handelt von einem Stück deutscher Geschichte: dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953. Aber weit ist sie beim Lesen noch nicht gekommen. Schlaff hängt das Lesezeichen herunter, dieses weiße, eingeklemmte Schnürchen mit den weißen, ausgefransten Härchen, zwischen den ersten Seiten und dem Rest des ungelesenen bedruckten Papiers. Kein Wunder, ständig klingelt das Mobilfon und immer wieder stellen ihr die Mitreisenden Fragen oder ihr Pressesprecher gibt ihr Papiere, die sie lesen soll. Eva-Maria Stange heißt die Frau, und sie befindet sich gerade auf einer Reise durch ein Land, das, in aller Stille, niederzugehen scheint.

Gegen diesen Satz würde sich Eva-Maria Stange verwahren. Die Situation im Osten der Bundesrepublik sei sicherlich schlimm, würde sie sagen, aber hoffnungslos?, nein, das nicht.

Stange ist seit 1997 Bundesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und hat den Auftrag, für bessere und für mehr Bildung im Lande zu kämpfen - Pessimismus ist da nicht angebracht. In den neuen Bundesländern ist seit dem Jahre 1990 eine dramatische Entwicklung eingetreten, die die Vorsitzende der GEW nicht bekämpfen kann: Abwanderung und Geburtenrückgang lassen von Jahr zu Jahr die Bevölkerung schrumpfen. Im Schnitt sind in allen fünf Neuen Ländern die Geburtenraten um die Hälfte gesunken. Die Folge: Schulen leeren sich, immer weniger Kinder bevölkern Gemeinden und Städte. Also schließen die Kommunen viele Bildungseinrichtungen und entlassen Lehrer. Und das geschieht alles ohne einen Aufschrei in den sonst so schnell betroffenen Medien, es geschieht still, kaum öffentlich beachtet. Deshalb versucht Stange, darauf aufmerksam zu machen mit ihrer Reise, der mehrtägigen Osttour mit diesem Bus. Auf den Flanken des Busses steht mit roten Buchstaben auf weißem Untergrund: "Bildungsoffensive Ost statt Bildungsabbau". Gerade so, als ob der Schriftzug gegen die Stille anschreien sollte.

Jetzt steht die GEW-Vorsitzende im Klassenraum der längst von der Stadt Rostock geschlossenen Gesamtschule Groß-Klein. Vor einer mit gelben Gardinen verhangenen Fensterfront sitzen Elternvertreter und GEW-Mitglieder und zwei Schüler. Dann sagt Stange: "Die Situation im Osten wird schlicht ausgeblendet. Dabei ist die Lage dramatisch. Seit 1997 bin ich GEW-Vorsitzende, und ich ärgere mich zunehmend über diese einseitige Westsicht der Probleme." In Mecklenburg-Vorpommern herrscht Schulsterben. Allein in den vergangenen zehn Jahren schlossen die Kommunen mehr als 300 Schulstandorte, weil die Klassen zu klein geworden sind. Die Kinder verteilte die Schulbehörde auf andere Lehrstätten.

Der Gesamtschule in Groß-Klein versprachen die Rostocker Kommunalpolitiker ursprünglich Mittel für eine Sanierung. Doch mittlerweile sind die Versprechungen vergessen, schimpft ein Vater, der im Elternbeirat sitzt. "Die Wirtschaftslobby drängt die Politik zu großen prestigeträchtigen Bauvorhaben, aber nicht zur Sanierung der Schulen unserer Kinder."

Rostocks Bürgermeister Arno Pöker (SPD) befindet sich im Olympiarausch. Er hofft, dass die Segelwettbewerbe 2012 in der Hansestadt ausgetragen werden. Finanzen für Klassenräume und Computer sind da nicht vorgesehen. 13 Jahre nach der Wende entstanden zwar viele Straßen und Wohnanlagen, doch die Schulgebäude verkommen. In Ostdeutschlands Gemeinden und Städten türmen sich die Schuldenberge, so dass sie Sanierungen selbst nicht tragen können. Die Länder aber helfen nur selten. Viel eher versuchen sie, die dramatisch schrumpfende Bevölkerungszahl für mehr Einsparungen zu nutzen. Denn die vielen Schließungen führen natürlich auch zur Entlassung von Erziehern und Lehrern und die bezahlt das Land.

Sebastian besucht die 12. Klasse der Gesamtschule und sitzt vor diesem gelb leuchtenden Vorhang. "Die Situation ist unerträglich. Versuchen Sie mal, Schüler zu motivieren, die sich wie in einem Tagesgefängnis fühlen und nur schnell heim wollen. Im Winter müssen sie mit den Jacken im Unterricht sitzen, weil Wände und Fenster die Kälte nicht mehr abhalten", sagt er. Sebastian geht in seiner Schule nicht mehr aufs Klo, weil es kein Klopapier gibt, sagt er. Ein bisschen mehr als nur Geld fürs Klopapier müsste es aber schon sein, wenn man die Schulen Mecklenburg-Vorpommerns sanieren wollte. Das Bildungsministerium schätzt, dass 800 Millionen Euro nötig wären, um alle Schulanlagen wieder in Schuss zu bringen.

Im orange gestrichenen Flur zum Haupteingang der Schule Groß-Klein hängen noch die Bilder vom letzten Musikfest. Eine gerahmte Urkunde vom Talentfest der Gesamtschule erinnert an die "Stimmung in der 7a". Unter dem Foto eines verkleideten Schülers steht: "Paul als Konkurrent Pavarottis?" Vor dem Eingang steht einsam eine Beton-Tischtennisplatte, gebaut für die Ewigkeit. Stange geht daran vorbei und steigt in den Bus ein. Stange ist Sächsin und das ist ihr wichtig, sagt sie, denn sie kenne den Osten. In Magdeburg wuchs sie auf und ging dort zur Schule. Später studierte sie Pädagogik mit Fachrichtung Mathematik und Physik. Nach der Wende engagierte sie sich in der GEW und stieg schnell auf. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie gerne kämpft. Das sagt sie aber nicht.

In Schwedt, ihrer nächsten Station, steht sie wieder vor Publikum. Unter anderem sitzt der zweite Beigeordnete der Stadt Lutz Herrmann an einem Tisch. "Die demographische Entwicklung ist dramatisch für das Bildungssystem im Osten. Allein um den Akademikernachwuchs in den kommenden Jahrzehnten in den neuen Bundesländern zu sichern, müsste jedes im Jahre 1994 im Osten geborene Kind zur Hochschulreife geführt werden", sagt Stange. Dann legt Herrmann Folien auf, die zeigen, wie die Bevölkerung der Stadt Schwedt dramatisch schnell schrumpft. Die jungen Menschen ziehen in den Westen, zurück bleiben die älteren und schwachen. Zurück bleiben die, die kaum noch Träume haben. Die Kindertagesstätten hier sind bereits geschlossen worden. In den kommenden Wochen schließen die Behörden die nächste Schule in Schwedt. Auf den Tischen liegen Broschüren über Schwedt und die Region Uckermark. Auf der Titelseite steht: "Wirtschaftsstandort Uckermark, a place to do business." Dann steht Günther Fuchs, der GEW-Landesvorsitzende Brandenburg, auf und sagt: "Die Landesregierung streicht aufgrund der demographischen Entwicklung weiter Lehrerstellen und schließt Schulstandorte. Die Einzugsgebiete werden vergrößert, und die Schulwege verlängern sich somit für die Schüler. In Brandenburg gibt es praktisch keine Förderprogramme mehr." Fuchs spricht ruhig, aber seine Wut und die Resignation spüren die Anwesenden.

Später, als Stange wieder im Bus sitzt, blättert sie in ihrem Buch. Lustlos legt sie es auf den Sitz neben sich. "Ich bin eigentlich ein sehr optimistischer Typ". Sie glaube immer noch, dass man die Bildung in den neuen Bundesländern verbessern könnte. Trotz dieser Politik, der Bildung nur zu Wahlkampfzeiten am Herzen zu liegen scheine. Die Sonne knallt auf die Scheibe. Stange kneift die Augen zusammen.

Am nächsten Tag sitzt die GEW-Vorsitzende im Hof des Gellertgymnasiums in Hainichen auf einer Bank an einem Biertisch. Weiße Sonnenschirme stehen aufgespannt im Hof. Der Bürgermeister sitzt mit am Tisch, ein Lokaljournalist, Lehrer, Eltern. Auch in Hainichen ist die Geburtenrate seit 1990 um 50 Prozent gefallen. Die Klassenzüge sind zu klein. Das Gellertgymnasium soll bald geschlossen werden. Eine Mutter erzählt, dass in ihrem Ort die Schule erst vor wenigen Wochen dichtgemacht worden sei. Und nun besuche ihre Tochter die neunte Klasse in Böhrigen. Dort habe die Schulleitung Container vor dem Gebäude aufgestellt, weil sie überlastet seien. Bis zum Abitur müsse ihre Tochter nun in einem Container sitzen. Einer der Elternvertreter kommentiert: "Wenn die Schule erst mal zur Schlachtung freigegeben wird, kannst du nichts mehr machen."

Niemand widerspricht. Leise sagt eine Mutter: "Es beschleicht uns Hoffnungslosigkeit, viele Eltern wollen nicht mehr." Stange hält eine Broschüre der GEW in die Höhe, ein wissenschaftliches Gutachten, das alle Zahlen, Daten und Fakten enthält über die Geburtenentwicklung im Osten, die Schulen, die Lehrerstellen. Statistiken illustrieren die Dramatik. Aber die Lage lässt sich auch mit einem Satz beschreiben: Ein großer Teil Deutschlands blutet aus.

In der Aula des Gellertgymnasiums hängen Bleistiftzeichnungen der Kunstgruppe und Plakate, die die nächste Theateraufführung ankündigen, die letzte in dieser Schule. Titel: "Sternfels" Motto: "Jede Flucht ist ausgeschlossen." Der Schulleiter Gerd Becker steht vor einem solchen Plakat. Die Theatergruppe ist für den Jugendpreis des Landes Sachsen vorgeschlagen worden, sagt er stolz. Aber die Erfolge des Gymnasiums sind für die Gemeinde kein Argument, es nicht zu schließen, meint er.

Als Stange auf ihrem Platz im Bus sitzt, liest sie einen Artikel über eine Schule, die geschlossen werden soll. Die Eltern befinden sich deshalb im Hungerstreik. "Tja, erst wenn alles zu spät ist", sagt Stange. Hinter der Scheibe zieht die Landschaft Sachsens vorbei. Stange wird noch andere Städte besuchen und über Bildung im Osten sprechen. Und darüber, dass der Aderlass in den neuen Bundesländern unaufhaltsam scheint und gerade deshalb die Politik mehr und nicht weniger Geld für Bildung ausgeben müsse. Neben ihr liegt immer noch dieses Buch über den Arbeiteraufstand. Das Lesezeichen befindet sich immer noch an der gleichen Stelle, eingeklemmt zwischen den ersten Seiten und dem Rest des ungelesenen Papiers.

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