"Wo das geht, geht alles." Angesichts Grönemeyer-Songs schmetternder Rentnerhorden kann man diesen Werbeslogan beinahe als Drohung verstehen. Es ist Samstagmittag, der 6. Juni, der seit Monaten aufwendig vorbereitete "Day of Song". Das Ruhrgebiet, das jetzt Ruhrmetropole heißt, soll ein gigantisches Sing-Event erleben, einen der Höhepunkte des Kulturhauptstadtjahres "Ruhr.2010". Nachdem Kirchglockengeläut das gesamte Revier zur Kehlenlockerung gerufen hat, summt man sich ein. Auf Marktplätzen und Schiffen, auf Brücken, in U-Bahnen und Geschäften soll an diesem Tag gesungen werden. Als Finale ist abends ein Massenchor im Gelsenkirchener Fußballstadion angekündigt, auf Schalke.
Kurz nach 12 Uhr steigt die Anspannung auf dem Marktplatz in Unna. Die Bühne fasst kaum ein Fünftel der aufgestellten Chöre. Schülerinnen zupfen ihre Röcke zurecht, der Chorleiter bringt sein Pult in Stellung, eine Dame um die Vierzig prüft in der ersten Reihe die Glitzereffekte in ihrem Dekolleté. Wer nicht zu einem Chor gehört, darf auf einen Plastikstuhl in den Schatten flüchten. Aus großen Boxen wird der Platz vom WDR2 beschallt. Die „Rundumschaltung im Radionetzwerk NRW“, soll dafür sorgen, dass die vielen kleinen Sing-Events zu einem Gemeinschaftsereignis zusammengesetzt werden. Hunderttausende sollen gleichzeitig zwei Lieder anstimmen. Alles ist minutiös geplant, die Textblätter zu dem traditionellen Bergarbeiterlied „Glück auf“ und der von Herbert Grönemeyer für das Kulturhauptstadtjahr komponierten Hymne „Komm zur Ruhr“ haben alle aufgeschlagen.
Singen auf eigene Faust
Aber alles geht halt dann doch nicht. Die Sonne brennt, die Radio-Musik wird ausgeblendet, doch die WDR-Moderatorin witzelt sich über technische Schwierigkeiten hinweg – wieder Musik aus der Konserve. Als der nächste Song zu Ende geht, ist beim WDR Angela Merkel Thema. Nicht uninteressant, aber gerade mächtig fehl am Platz. In Unna dreht man das Radio ab, aus der konzertierten Aktion wird nichts. Als die WDR-Moderatorin eine halbe Stunde später einen Countdown runterzählt, hören die meisten schon nicht mehr zu. Die Chöre in Unna und Oberhausen, Hamm oder Dortmund haben das Programm bereits auf eigene Faust absolviert, ohne Grönemeyer-Playback aus dem Radio.
War aber auch schön. Warum unbedingt überall gleichzeitig gesungen werden soll, ist ohnehin nicht einsehbar. Hören könnte man die Sänger auf den anderen Plätzen nicht, dafür ist das Ruhrgebiet dann doch zu groß. Es ist wohl eher die Sucht nach beeindruckenden Zahlen, nach den unverzichtbar gewordenen Rekorden, die hinter dem Synchronversuch steht. Die „Zahlen und Fakten“ bekommt der Journalist folglich ständig hinterhergeworfen: Über 760 Chöre und 26.000 Sänger waren bei insgesamt auf drei Tage verteilten Veranstaltungen mit von der Partie. Rekord! Das hat bisher kein Chortreff hinbekommen.
Einfacher wird das Synchronsingen allerdings, wenn man von den möglichst vielen Beteiligten alle an einem Ort beieinander hat. Der Preis dafür ist aber eine Lokalität, die keineswegs nach akustischen Gesichtspunkten erbaut wurde. Zum Abschlusskonzert um 20 Uhr quellen weit über 50.000 Menschen ins Fußballstadion. Beim Pressegespräch kurz vor der großen Sause berauscht sich Fritz Pleitgen, WDR-Intendant a. D. und Ruhr.2010-Chef, an den Massen: Angesichts dieser Volksbewegung gingen ihm die Superlative aus. Was man aus einem Konzert alles machen könne! Ruhr.2010-Geschäftsführer Oliver Scheytt sieht gar den Grundstein für eine neue gesellschaftliche Bewegung gelegt: „Deutschland hat nach den NS-Erfahrungen das öffentliche Singen verlernt. Das wollen wir wiederentdecken.“
Auf den Rängen drängen sich farblich voneinander abgesetzte Chöre, die in Einheitskleidung angerückt sind. Vom Kinderchor bis zum eigens gegründeten Gebärdenchor, vom Sing-Profi bis zur Duschen-Diva ist alles auf Schalke, was gern singt. Allerdings sind die Alten in der Überzahl, die Nachwuchssorgen der Freizeitchöre spiegeln sich in der Altersstruktur. Für Mitklatsch-Arien ist das Publikum jedoch genau das richtige, also wird auch ausgiebig mitgeklatscht. Allein im Innenbereich, wo sonst der Fußballrasen leuchtet, sind 8.000 Chormitglieder um eine Bühne postiert. Wo das Volk so zusammen läuft, dürfen seine Repräsentanten natürlich nicht fehlen. Also stehen Hannelore Kraft und Jürgen Rüttgers in einer der ersten Reihen und singen gemeinsam – was für eine große Koalition. Nur Herbert Grönemeyer fehlt.
Demokratische Tugend
Das Programm ist auf Mitsingen ausgerichtet. Spätestens beim Stadionkanon geht das musikalisch aber völlig schief. Man hört schlicht die Stimmen von gegenüber nicht, wenn im eigenen Block Tausende losträllern. Der künstlerische Leiter Steven Sloane, ein US-Amerikaner, der nicht müde wird, Gesang mit Demokratie gleichzusetzen (weil jeder eine Stimme hat, die er nur zu nutzen braucht), freut sich angesichts des Spektakels trotzdem. Entweder es gefällt ihm tatsächlich, ein etwas schiefes „Let it be“ aus tausenden Kehlen zu dirigieren, oder er versteckt sein Missfallen sehr professionell.
Von den Beatles bis zu Beethoven steht fast alles auf dem Programm, was man so kennt. Vokalkünstler Bobby McFerrin, ein Rastaman in Jeans und T-Shirt, wird als eine Art Spiritus Rector gefeiert und das Kölner Stimm-Quintett Wise Guys bringt mit völlig unverständlichen Songs Jugendchöre zum Aus-der-Reihe-Hopsen.
Massenveranstaltungen dieser Art sind gewöhnungsbedürftig, schon weil ihr Anlass kaum der tiefere Grund ihrer Anziehungskraft ist. Man geht hin, weil die anderen auch hingehen. Kirchentagsfeeling ist in. Darüber kann man leicht spotten. Es ist aber dennoch bemerkenswert, wie begeistert Zehntausende ein Stadion füllen können, um gemeinsam zu singen. Und das, ganz ohne zu beten.
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