Anja aus der Antarktis

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Ich hasse eine Frau, die Wetterballons steigen lässt, und erkläre, weshalb es die Demokratie gibt.

Ich hasse Anja. Ich hasse Anja wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Wenn ich Anja wäre, würde ich mich hassen wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Ich bin nicht Anja. Das Leben ist schön.

Ich sah Anja in einem Dokumentarfilm über eine Forschungsstation in der Antarktis. Anja war Meteorologin. Jeden Tag füllte sie einen Wetterballon mit Helium, ließ ihn steigen und wertete die Daten aus. Das ist nicht der Grund, warum ich Anja hasse.

In der Forschungsstation arbeitete eine Köchin, sie hieß Sonja. Anja mochte das Essen nicht, das Sonja kochte. Anja sagte, es sei zu fettig. Deshalb setzte sie durch, dass Sonja samstags frei hatte und sie selbst das Essen kochte. In einer Szene zeigt der Film, wie Anja viel Butter in die Pfanne gibt und sagt „Das brauche ich nur für den Geschmack.“ Mir fiel auf, dass Anja ungefähr genauso pummelig war wie die Köchin.

In den folgenden Wochen verlor Sonja die Macht über die Küche. Jeder nahm sich, was er wollte.

Nie wäre die Köchin auf die Idee gekommen zu Anja zu sagen: „Mir gefällt es nicht, wie du den Wetterballon steigen lässt und die Daten auswertest. Samstags übernehme ich das für dich.“ In der Forschungsstation war jeder Spezialist für einen Bereich. Es gab einen Elektriker, einen Ingenieur, zwei Geophysiker, eine Ärztin, Meteorologin Anja und Köchin Sonja. Niemand mischte sich in den Bereich des anderen ein. Nur Anja entzog der Köchin die Existenzberechtigung. Dafür hasse ich Anja wie keinen anderen Menschen auf der Welt.

Warum mischte sich Anja ein, warum mischte sich Sonja nicht ein?

Es gibt viele Berufe, von denen Menschen denken, sie könnten sie selbst ausüben: Kochen, Blumen pflanzen, Zeitungsartikel schreiben. Deshalb gibt es so viele Kochbücher, Gartenratgeber und Blogs.

Es gibt viele Berufe, von denen kein Mensch denkt, dass er sie selbst ausüben könne: Wetterdaten auswerten, ein Flugzeug fliegen, einen Bypass legen. Es gibt zu diesen Themen kaum Bücher.

Der Grund dafür ist nicht, dass es komplizierter ist, einen Bypass zu legen als zu kochen. Es liegt daran, dass Fehler beim Bypass legen schneller auffallen und schneller ernste Konsequenzen haben.

Wenn die Meteorologin Anja zum Essen nur etwas zuviel Salz hinzu gibt, fällt das kaum auf, wenn sie sehr viel zuviel Salz hinzu gibt, geht davon nicht die Welt unter. Wenn die Köchin Sonja allerdings den Wetterballon falsch aufsteigen lässt und danach die Daten falsch auswertet, ist das Ergebnis wertlos. Die Versuchsreihe muss wiederholt werden.

Böse Zungen, zu denen ich selbstredend nicht gehöre, können nun erklären, weshalb es Demokratie gibt. Demokratie ist Politik, die dem Volk zugänglich gemacht wurde. Früher, in der Monarchie, war Politik ein Fachbereich wie Meteorologie, heute ist Politik wie Kochen und Blumen pflanzen.

Das heißt: Egal, was der Wähler anstellt, seine Entscheidungen, auch Fehler genannt, fallen nicht schnell auf und haben keine ernsten Konsequenzen. Sonst wäre die Demokratie gar nicht eingeführt worden. Das liegt daran, dass die Demokratie zwischen Wähler und politischer Entscheidung das Parlament gesetzt hat. Der Wähler darf nur in die Küche, nicht aber ins Büro, ins Schlafzimmer oder in den Heizungskeller. Wenn er die Nudeln unerträglich versalzen hat, füllt der Politiker Wasser nach.

Es gibt allerdings auch Politiker, die gelungenes Essen wegschmeißen, wenn der Wähler gerade Wein im Keller holt, ein anderes Gericht kochen und dann behaupten, das sei genau das Essen, das der Wähler haben wollte.

Sagen die bösen Zungen. Man sollte sie herausschneiden, mit viel Fett in der Pfanne braten und Anja als Mittagessen servieren.

Dieser Text ist Teil meiner Kolumne "About a Boy", die jeden Freitag bei RP Online erscheint. Mehr Folgen gibt es hier.

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